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Hessisches LSG, Beschluss vom 15.11.2021 – L 2 SB 128/21 Schlagwörter Sachverständigenvergütung - besondere ­Aufwendungen - COVID-19-Pandemie -Hygienepauschale

Leitsatz:

1. Die Kosten eines Sachverständigen für die Einhaltung der Hygienemaßnahmen anlässlich einer Begutachtung während der Covid-19-Pandemie sind besondere Aufwendungen im Sinne des § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 JVEG.

2. Für die Schätzung der Kosten ist auf Nr. 245 GOÄ zurückzugreifen, so dass sich ein Kostenansatz i.H.v. 6,41 Euro netto ergibt.

Aus den Gründen:

I.

Die Beteiligten streiten über die Höhe der Vergütung eines Sachverständigengutachtens nach dem Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz (JVEG).

In dem Klageverfahren des B. gegen das Hessische Amt für Versorgung und Soziales Fulda (Sozialgericht Fulda, S 14 S. 76/19) erstellte der Beschwerdeführer ein Gutachten von Amts wegen zur Höhe des bei dem Kläger festzustellenden Grades der Behinderung (GdB). Die Vorsitzende der 14. Kammer beauftragte Prof. Dr. C. mit Beweisanordnung vom 26. August 2019 und fügte ergänzend an: „Ich bitte um Erstellung eines orthopädischen Zusatzgutachtens durch Herrn Dr. A., A-Stadt“. Prof. Dr. C. gab die
Gerichtsakte an den Beschwerdeführer weiter und legte sein Gutachten vom 13. November 2020 am 16. November 2020 vor.

Der Beschwerdeführer legte sein Gutachten am 27. Februar 2021 vor und machte mit Kostenrechnung vom 26. Februar 2021 eine Vergütung in Höhe von insgesamt 1.577,86 € geltend. … Dieser Betrag setzt sich wie folgt zusammen:

Vergütung für erhöhten Hygieneaufwand aus Anlass der Covid-19-Pandemie 6,41 €

Zwischensumme …

Umsatzsteuer …

Gesamtbetrag 1.577,86 €

Die Rechnung wurde von der Urkundsbeamtin mit Schreiben vom 31. März 2021 um den Hygieneaufschlag in Höhe von 6,41 € nebst Umsatzsteuer gekürzt, so dass ein Gesamtbetrag in Höhe von 1.570,25 € anerkannt wurde.

Der Beschwerdeführer beantragte mit Schreiben vom 6. April 2021 die richterliche Festsetzung der Vergütung. … Mit Verfügung vom 14. April 2021 lehnte die Urkundsbeamtin eine Abhilfe ab.

Das Sozialgericht hat durch Beschluss vom 9. August 2021 die Entschädigung des Beschwerdeführers für die Erstattung seines Gutachtens im Verfahren S 14 S. 76/19 auf 1.570,25 € festgesetzt und die Beschwerde zugelassen. …

Der Beschwerdeführer hat gegen den ihm am 12. August 2021 zugestellten Beschluss am 18. August 2021 Beschwerde beim Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt.

II.

Die gemäß § 4 Abs. 3 und 4 JVEG zulässige Beschwerde ist begründet.

Anwendbar sind die Regelungen des JVEG in der bis zum 31. Dezember 2020 geltenden Fassung, da nach der Übergangsvorschrift des § 24 Satz 1 JVEG maßgeblich auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Beauftragung des Sachverständigen abzustellen ist. Der Antragsteller wurde hier bereits mit Beweisanordnung vom 26. August 2019, d.h. vor dem 1. Januar 2021, mit der Begutachtung des Klägers beauftragt. Zur Kenntnis gebracht wurde dem Beschwerdeführer diese Beweisanordnung durch Weiterleitung seitens des Dr. C. am 16. November 2020.

Das JVEG regelt gemäß § 1 Satz 1 Nr. 1 JVEG die Vergütung von Sachverständigen, die von dem Gericht herangezogen worden sind. Eine solche Heranziehung des Beschwerdeführers nach § 1 JVEG ist durch Beweisanordnung vom 26. August 2019 erfolgt, auch wenn der Beschwerdeführer die Beweisanordnung nicht direkt vom beauftragenden Gericht, sondern über einen vorherigen Sachverständigen erhielt. Die Beweisanordnung ist jedoch insoweit ausreichend eindeutig, dass der Beschwerdeführer mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragt worden ist.

Gemäß § 8 Abs. 1 JVEG erhalten Sachverständige

  • ein Honorar für ihre Leistungen (§§ 9 bis 11),
  • Fahrtkostenersatz (§ 5),
  • Entschädigung für Aufwand (§ 6) sowie
  • Ersatz für sonstige und für besondere Aufwendungen (§§ 7 und 12).
  • Nachdem nur der Beschwerdeführer Beschwerde eingelegt hat, kommt eine Verringerung der Vergütung unter den vom Sozialgericht festgesetzten Betrag in Höhe von 1.570,25 € nicht in Betracht. Im Gegensatz zur erstmaligen gerichtlichen Vergütungsfestsetzung nach § 4 Abs. 1 Satz 1 JVEG gilt im Beschwerdeverfahren das Verschlechterungsverbot (Verbot der reformatio in peius) mit der Folge, dass der von der Vorinstanz festgesetzte Betrag nicht zum Nachteil des Beschwerdeführers geändert werden kann ...

    Die von dem Beschwerdeführer begehrte Erhöhung der Vergütung auf 1.577,86 € beruht auf der Erstattung einer Pauschale für erweiterte Hygienemaßnahmen wegen der Covid-19-Pandemie. Hinsichtlich der anzusetzenden Stunden und der sonstigen Kosten besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.

    Zunächst hat der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf Erstattung dieser Kosten als besondere Leistungen nach § 10 JVEG. Die durchgeführten Untersuchungen können gegenüber dem Gericht nicht unmittelbar, wie in der Rechnung vom 26. Februar 2021 erfolgt, nach den Grundsätzen der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) abgerechnet werden. Eine Erstattung besonderer Leistungen ist abschließend in § 10 JVEG geregelt. Nach § 10 Abs. 2 JVEG bemisst sich das Honorar für Leistungen der in Abschnitt O (Strahlendiagnostik, Nuklearmedizin, Magnetresonanztomographie und Strahlentherapie) des Gebührenverzeichnisses für ärztliche Leistungen (Anlage zur GOÄ) bezeichneten Art in entsprechender Anwendung dieses Gebührenverzeichnisses nach dem 1,3-fachen Gebührensatz. Die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Nr. 245 der Anlage zur GOÄ ist nicht im Abschnitt O der Anlage zur GOÄ enthalten. Die GOÄ findet wiederum nur in den im JVEG ausdrücklich normierten Fällen Anwendung (Beschluss des erkennenden Senats vom 8. August 2019, L 2 S. 69/17 K). Eine entsprechende oder analoge Anwendung kommt nicht in Betracht, denn sie widerspricht dem Wortlaut („soweit“) und dem Charakter des § 10 Abs. 2 JVEG als eng auszulegende Sondervorschrift (Beschluss des erkennenden Senats vom 13. Juli 2021, L 2 S. 1/20 K; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 31. Januar 2020, L 2 S. 101/19 B; Thüringer LSG, Beschluss vom 9. November 2015, L 6 JVEG 570/15; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 12. November 2020, L 10 KO 3421/20).

    Der Beschwerdeführer kann jedoch einen Ersatz für besondere Aufwendungen gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 JVEG verlangen.

    Nach § 12 Abs. 1 JVEG sind, soweit im Gesetz nichts anderes bestimmt ist, mit der Vergütung nach den §§ 9 bis 11 JVEG auch die üblichen Gemeinkosten sowie der mit der Erstattung des Gutachtens üblicherweise verbundene Aufwand abgegolten. Nach § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 JVEG werden jedoch die für die Vorbereitung und Erstattung des Gutachtens aufgewendeten notwendigen besonderen Kosten, einschließlich der insoweit notwendigen Aufwendungen für Hilfskräfte, sowie die für eine Untersuchung verbrauchten Stoffe und Werkzeuge gesondert ersetzt. § 12 Abs. 1 JVEG bezweckt eine möglichst vollständige Abgeltung aller dort genannten im Einzelfall anfallenden Nebenkosten des Sachverständigen, soweit dieser sie tatsächlich gehabt hat (Weber, in: Hartmann/Toissant, Kostenrecht, 51. Auflage 2021, § 12 JVEG, Rn. 6).

    Wird eine Hilfskraft durch den Sachverständigen herangezogen, erwirbt diese keinen eigenständigen Erstattungsanspruch gegenüber der Staatskasse. Es handelt sich um ein privates Rechtsverhältnis zwischen dem Sachverständigen und der Hilfskraft (Schneider, JVEG, 4. Aufl. 2021, § 12 JVEG, Rn. 30). Der Beschwerdeführer hat zusätzlich zu seiner Rechnung vom 26. Februar 2021 keine solchen besonderen Aufwendungen konkret geltend gemacht und nachgewiesen. Die im Beschwerdeverfahren vorgelegte radiologische Rechnung vom 13. August 2021 für eine Untersuchung am 5. Juni 2021 steht offensichtlich nicht im Zusammenhang mit der Begutachtung im Ausgangsverfahren.

    Der Beschwerdeführer hat dennoch Anspruch auf Erstattung eines Betrages in Höhe von 6,41 € für Kosten für Hygieneaufwand als besondere Aufwendung. Diese zusätzlichen Kosten sind nach Ansicht des Senats mit der Vergütung nach den §§ 9 bis 11 JVEG nicht abgegolten.

    Mit dem Honorar sind grundsätzlich die allgemeinen Geschäfts-, Praxis- und Bürokosten des Sachverständigen und der mit der Erstattung des Gutachtens üblicherweise verbundene Aufwand abgegolten (sog. Gemeinkosten). Zu diesen üblichen Gemeinkosten zählen auch Aufwendungen, die sich aus einer angemessenen Ausstattung mit technischen Geräten ergeben (vgl. BT-Drucks 15/1971, S. 184). Dementsprechend kann ein Sachverständiger für die bloße Benutzung und fortlaufende Abnutzung von Werkzeugen, Geräten und technischen Einrichtungen keine Entschädigung nach § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 JVEG erhalten (vgl. LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 2. Oktober 2019, L 15 S. 285/19 B, juris). Nach Ansicht des Senats zählen grundsätzlich auch Hygienemittel zu den Stoffen und Werkzeugen, die der Sachverständige in seiner Praxis unabhängig von der Covid-19-Pandemie vorhält und benutzt. Allerdings ist für den Senat plausibel, dass sich der Umfang der Verwendung dieser Hygienemittel durch die pandemische Lage stark ausgeweitet hat und nicht dem normalen Maß entspricht. Diese zusätzlichen Maßnahmen sind ausschließlich durch die Covid-19-Pandemie veranlasst und dienen speziell deren Eindämmung. Der Senat geht auch davon aus, dass sich der aktuell anzutreffende und erforderliche Hygienestandard nicht als Normallstandard etablieren, sondern mit dem Ende der Pandemie auf ein vorpandemisches Maß zurückgehen wird. Die Kosten für die Einhaltung der Hygienemaßnahmen anlässlich einer Begutachtung während der Covid-19-Pandemie sind deshalb besondere Aufwendungen des Sachverständigen im Sinne des § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 JVEG (ebenso LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 18. November 2020, L 4 S. 122/19, juris).

    Der Begriff der „notwendigen besonderen Kosten“ im Sinne des § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 JVEG ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Seine Auslegung unterliegt der vollen gerichtlichen Kontrolle. Kriterien zur Konkretisierung der „Notwendigkeit“ der besonderen Kosten finden sich im JVEG nicht. Liegt ein Einzelnachweis der Aufwendungen nicht vor, ist zur Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs „notwendige besondere Kosten“ im Sinne des § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 JVEG auf einen pauschalisierenden Ansatz zurückzugreifen. Ist die konkrete Höhe der Aufwendungen nicht feststellbar, so kann das Gericht die Höhe in entsprechender Anwendung des § 287 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls schätzen (Beschluss des erkennenden Senats vom 30. Juni 2014, L 2 R 106/13 B, juris). So liegt der Fall hier: die Kosten für die unzweifelhaft vorhandenen zusätzlichen Hygieneaufwendungen anlässlich der Covid-19-Pandemie sind nur schwer konkret belegbar. Es würde einen unverhältnismäßig hohen Aufwand für Sachverständige erfordern, wenn in jedem einzelnen Abrechnungsfall verlangt würde, die Kosten für verbrauchte Hygienestoffe wie z.B. Masken, Überziehschuhen, Einmalhandschuhen, Flächen- und Händedesinfektionsmittel, chirurgischen OP-Hauben und Spuck-Gesichtsmasken konkret zu beziffern und zu belegen. Für die Schätzung der Kosten entsprechend § 287 Abs. 2 ZPO erachtet der Senat einen Rückgriff auf die Nr. 245 der Anlage zur GOÄ i. H. v. 6,41 € (1-facher Satz) netto entsprechend der Gemeinsamen Analogabrechnungsempfehlung der BÄK, dem PKV-Verband und den Beihilfekostenträgern des Bundes und der Länder für die Erfüllung erhöhter Hygienemaßnahmen im Rahmen der Covid-19-Pandemie pro Sitzung bei unmittelbarem Arzt-Patienten-Kontakt für zutreffend (ebenso auch LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 18. November 2020, L 4 S. 122/19, juris m. Anm. Keller, jurisPR-SozR 6/2021 Anm. 5). Den Ansatz dieser Pauschale erachtet der Senat sowohl aus Praktikabilitätserwägungen als auch aus Gründen einer möglichst landesweiten Vereinheitlichung der Abrechnungsmaßstäbe für zweckmäßig. Der Senat hält es auch angesichts des sich gerade wieder verschärfenden Infektionsgeschehens nicht für sachgerecht, über ein Ende der erforderlichen zusätzlichen Hygienemaßnahmen und der Möglichkeit, die Pauschale abzurechnen, zu spekulieren. Die benannte Abrechnungsempfehlung wurde zwischenzeitlich bis zum 31. Dezember 2021 verlängert.

    Insgesamt ist die Vergütung des Beschwerdeführers daher unter Berücksichtigung besonderer Aufwendungen für erhöhten Hygieneaufwand wegen der Covid-19-Pandemie in Höhe von 6,41 € nebst der darauf entfallenden Umsatzsteuer auf einen Betrag von 1.577,86 € festzusetzen.

    Hinweise:

    1. Der Beschluss bestätigt den Beschluss des LSG Rheinland-Pfalz vom 18.11.2020 – L 4 B 122/19 (MedSach 2021, 128 ff.), so dass nunmehr von einer breiteren obergerichtlichen Rechtsprechung für die Vergütung des erhöhten Hygieneaufwands aus Anlass der COVID-19-Pandemie ausgegangen werden kann.

    2. Die in Bezug genommene Abrechnungsempfehlung wurde zwischenzeitlich geändert und lautet nunmehr wie folgt: „Gemeinsame Analogabrechnungsempfehlung von BÄK, PKV-Verband und den Trägern der Kosten in Krankheits-, Pflege- und Geburtsfällen nach beamtenrechtlichen Vorschriften des Bundes und der Länder für die Erfüllung aufwändiger Hygienemaßnahmen im Rahmen der COVID-19-Pandemie, je Sitzung analog Nr. 383 GOÄ, erhöhte Hygienemaßnahmen, zum 2,3fachen Satz. Die Abrechnungsempfehlung gilt vom 01.01.2022 bis zum 31.03.2022 und ist nur bei unmittelbarem, persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt im Rahmen einer ambulanten Behandlung anwendbar. Bei Berechnung der Analoggebühr nach Nr. 383 GOÄ kann ein erhöhter Hygieneaufwand nicht zeitgleich durch Überschreiten des 2,3fachen Gebührensatzes für die in der Sitzung erbrachten ärztlichen Leistungen berechnet werden.“ (abgerufen unter: https://www.laekh.de/aktuelles/detail/goae-hygieneziffer-aenderung-der-… zuletzt am 29.1.2022).

    Redaktionell überarbeitete Fassung
    eingereicht von P. Becker, Kassel