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A.Scheurich

Die theoretischen und empirischen Grundlagen der ­Begutachtung der Posttraumatischen Belastungsstörung

Zusammenfassung

In den Leitlinien zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen (LL Gutachten) werden Bedingungen für die Anerkennung der Posttraumatischen Belastungsstörung aufgestellt. Die Arbeit analysiert die theoretischen und empirischen Grundlagen dieser Bedingungen. Die LL Gutachten beschreiben ein behavioristisch geprägtes Paradigma, das auf äußerliche Kontrolle abzielt. Eine objektive Schwere des Ereignisses bzw. Unfalls und ein äußerlich sichtbarer und dokumentierter Erstschaden werden verlangt. Die subjektiv wahrgenommene Gefahr hat dagegen nur nachrangige Bedeutung. In der Analyse wird erkenntnistheoretisch die Erfassung einer objektiven Traumaschwere relativiert. Weder Gutachter noch Betroffene sind in ihrer Wahrnehmung objektiv. Demgemäß sollte der subjektiven Patientenperspektive, wie in der Leitlinie Diagnostik und Behandlung akuter Folgen psychischer Traumatisierung, ein höherer Stellenwert eingeräumt werden. Die in den LL Gutachten zitierten Studien unterstützen nicht die Bedingung der schweren Verletzung als Voraussetzung für PTBS. Sie weisen vielmehr darauf hin, dass auch Betroffene mit moderaten Verletzungen (moderater Unfallschwere) an PTBS erkranken können. Die in den LL Gutachten beschriebene Einbeziehung eines zweiten für PTBS relevanten Faktors, der Resilienz beziehungsweise Vulnerabilität der Betroffenen, kann zusammen mit der besseren Berücksichtigung der subjektiven Wahrnehmung, die Erkrankungen bei moderater Traumaschwere besser erklären. Der Nachweis eines dokumentierten Erstschadens erweist sich vor dem Hintergrund nachweislich oft lückenhafter oder gar falscher Dokumentationen als schwierig. Viele Ansprüche können deswegen kaum oder gar nicht geltend gemacht werden. In den LL Gutachten werden die PTBS und dissoziative Symptome tendenziell bagatellisiert. Die Leitlinie steht in der skeptischen Tradition des Moral Hazard. Die einseitige Annahme von Interessenkonflikten nur bei den Patienten und nicht bei den Opponenten verstößt jedoch gegen das Neutralitätsprinzip.

Schlüsselwörter Posttraumatische Belastungsstörung – Verletzungsschwere – Resilienz – Dokumentation Erstschaden – Interessenkonflikte

MedSach 118 1/2022: 19  –28

Theoretical and empirical foundations of the ­assessment of post-traumatic stress disorder

Abstract

The guidelines for the assessment of mental and psychosomatic illnesses (guidelines reports) set out conditions for the recognition of post-traumatic stress disorder. The thesis analyses the theoretical and empirical basis of these conditions. The guidelines reports describe a behaviourist paradigm that aims at external control. An objective severity of the event or accident and externally visible and documented initial traumatic damage are required. The subjectively perceived danger, on the other hand, is of secondary importance. In the analysis, the assessment of an objective severity of trauma is relativised on the basis of epistemology. Neither experts nor those affected are objective in their perception. Accordingly, the subjective patient perspective should be given a higher priority, as in the guideline for the diagnosis and treatment of acute consequences of psychological trauma.

The studies cited in the guidelines reports do not support the condition of serious injury as a prerequisite for PTSD. Rather, they point out that those affected by moderate injuries (moderate accident severity) can also develop PTSD. A second factor of relevance to PTSD, the resilience and/or vulnerability of the affected persons, is described in the guidelines reports and its inclusion, together with better consideration of subjective perception, may better explain disorders in the case of moderate trauma severity.

Corroboration of documented initial traumatic damage proves to be difficult against the background of demonstrably often incomplete or even incorrect documentation. It is therefore virtually or completely impossible to assert many claims. In the guidelines reports, PTSD and dissociative symptoms tend to be trivialised. The guideline follows the sceptical tradition of moral hazard. However, the unilateral acceptance of conflicts of interest only in the case of patients and not in the case of opponents violates the principle of neutrality.

Keywords post-traumatic stress disorder – injury severity – resilience – documentation of initial damage – conflicts of interest

Anschrift des Verfassers

Dr. rer.-soc. Armin Scheurich,  Dipl.-Psych.
Psychologischer Psychotherapeut, Neuropsychologie
Leitender Psychologe
Klinik für Psychiatrie und Psycho­therapie
Universitätsmedizin Mainz
MVZ der Universitätsmedizin Mainz
Untere Zahlbacher Str. 8
55131 Mainz
Armin.Scheurich@unimedizin-mainz.de