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Zum Beitrag von Dreßing/Meyer-Lindenberg „Long-COVID/Post-COVID in der psychiatrischen ­Begutachtung in MedSach-Ausgabe 6/117 (2021), 228 ff.

Einleitung

Es ist zu begrüßen, dass in dieser Zeitschrift den medizinisch-juristischen Herausforderungen bezüglich der Beurteilung von SARS-CoV-2 Infektionen sowie COVID-Erkrankungen und deren Verläufen eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Spezielle Anforderungen ergeben sich insoweit auch im Unfallversicherungsrecht wegen der für dieses Sozialversicherungssystem generell geforderten kausalen Rückführbarkeit eines Gesundheitsschadens auf eine versicherte Tätigkeit im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität sowie etwaiger weiterer Gesundheitsschäden auf diesen Erstschaden im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität.

Eine weitere Herausforderung gerade bei den schwereren COVID-Erkrankungen sowie den unter den Stichworten Long-COVID/Post-COVID beschriebenen Verläufen stellt die der gesetzlichen Unfallversicherung obliegende medizinische Versorgung „mit allen geeigneten Mitteln“ dar. Dankenswerterweise wurde dem Autor bereits die Gelegenheit gegeben, zu dem letztgenannten Aspekt, aber auch zu dem Thema COVID-19 als Versicherungsfall nach dem SGB VII in dieser Zeitschrift Beiträge zu veröffentlichen. Einen sehr wichtigen Beitrag zu den medizinischen Beurteilungsfragen bei Langzeitbeschwerden nach SARS-CoV-2 Infektionen speziell unter psychischen Aspekten haben die Autoren Dreßing und Meyer-Lindenberg geleistet. Zu den darin aufgeworfenen Fragen, unter welchen rechtlichen Bedingungen die in der Praxis beobachteten psychischen Beeinträchtigungen nach einer SARS-CoV-2 Infektion tatsächlich als Folge einer als Versicherungsfall anzuerkennenden COVID-Erkrankung im Rahmen der sog. Haftungsausfüllung zuzurechnen sind, sollen hier einige ergänzende und klarstellende juristische Erläuterungen gegeben werden. Insbesondere soll im Anschluss an die insoweit nur kursorischen Hinweise des Autors in dem Beitrag in Heft 3/2022 dargelegt werden:

  • welche Anforderungen an eine positive Feststellung eines Kausalzusammenhangs in der gesetzlichen Unfallversicherung bestehen,
  • und welche Differenzierungen zwischen verschiedenen Fallkonstellationen dabei von Bedeutung sein können.
  • Der Fokus wird dabei auf die Zurechenbarkeit psychischer Beeinträchtigungen im Rahmen der sog. Haftungsausfüllung gelegt.

    Versicherungsfall COVID-19 Erkrankung – Infektionskrankheit im Sinne der Nr. 3101 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung/Arbeitsunfall

    Wie an anderer Stelle bereits dargelegt setzt eine Infektionskrankheit im Sinne der BK-Nr. 3101 grundsätzlich voraus, dass neben einer Erregeraufnahme bei der versicherten Tätigkeit auch eine dadurch verursachte klinische Beschwerdesymptomatik nachgewiesen ist. Eine psychische Reaktion allein als Folge der Kenntnisnahme eines Versicherten von einem positiven Corona-Test erfüllt nicht den Krankheitsbegriff im Sinne dieser Berufskrankheit. Ein Versicherungsfall im Sinne der BK-Nr. 3101 wird dadurch nicht begründet. Nur sofern als Folge der Infektion auch klinische Symptome nachgewiesen sind, kann eine darauf bezogene psychische Reaktion als Folgeerscheinung eines Versicherungsfalls bei der BK 3101 eine entschädigungsmäßige Relevanz erlangen (Haftungsausfüllung – siehe nachfolgende Ausführungen).

    Auch unter dem Aspekt eines Arbeitsunfalls nach § 8 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VII im Zusammenhang mit einer SARS-CoV-2 Infektion wird eine psychische Störung grundsätzlich nur im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität als Reaktion auf die durch die Aufnahme des Infektionserregers verursachten Krankheitserscheinungen Bedeutung erlangen. Dies folgt aus der gesetzlichen Vorgabe des § 8 Abs. 1 SGB VII, dass die Verursachung eines Gesundheitsschadens durch ein äußeres Ereignis (hier die Aufnahme des Erregers) im Sinne eines plötzlichen Ereignisses erfolgt sein muss. Eine spätere psychische Reaktion auf die Mitteilung eines positiven SARS-CoV-2 Befundes bewegt sich in der Regel schon außerhalb dieses zeitlichen Rahmens. Im Ausnahmefall könnte aber eine unmittelbare psychische Reaktion auf ein kritisches Kontaktereignis mit einer Person, die sich unverzüglich als infektiös zu erkennen gibt, im Sinne einer Angst­reaktion wegen der Ansteckungsgefahr als haftungsbegründendes Ereignis für einen Arbeitsunfall näher zu prüfen sein. Da ein sich nach wenigen Tagen als folgenlos herausstellendes Kontaktereignis in der Regel aber auch keine länger dauernde psychische Reaktion verursachen wird, sollen solche besonderen Konstellationen, wie eingangs dargelegt, hier nicht vertieft werden.

    Psychische Beeinträchtigungen nach/bei COVID-Erkrankungen im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität

    Generell kann eine im Krankheitsverlauf auftretende oder sich entwickelnde psychische Erkrankung in zweierlei Richtung bedeutsam sein:

  • Zum einen als Ursache für einen verzögerten Heilungsverlauf bezüglich der somatischen Krankheitsfolgen,
  • Zum anderen als sogenannter Folgeschaden im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität, der den Leistungs-bzw. Entschädigungsumfang vergrößert.
  • Der erstgenannte Gesichtspunkt soll hier nur kurz dargestellt werden. Im Unfallversicherungsrecht gilt generell, dass bei vergleichbarer äußerer Einwirkung sowohl das Ausmaß eines dadurch verursachten (Erst-)schadens als auch der Erkrankungsverlauf je nach der Konstitution der betroffenen Person sehr unterschiedlich ausfallen können. Neben körperlichen Prädispositionen gehört dazu auch die individuelle psychische Konstitution, die im Einzelfall den Krankheitsverlauf bzw. die Abheilung der körperlichen Krankheitsfolgen erheblich beeinflussen kann. Grundsätzlich stellen solche konstitutionellen Faktoren die Entschädigungspflicht für die körperlichen Folgen dem Grunde und dem Umfang nach nicht in Frage. Unter außergewöhnlichen Bedingungen kann der Entschädigungsumfang nach dem Prinzip der rechtlich wesentlichen Ursache begrenzt sein, z. B. wenn durch eine psychische Störung generell eine zielgerichtete ärztliche Behandlung gesundheitlicher Probleme erheblich gestört wird und sich dies auch bei der Behandlung von an sich eher unbedeutenden Folgen eines Versicherungsfalls gravierend auswirkt. Gegebenenfalls wäre dies auch bei einer – zunächst nur bagatellhaften - COVID-Erkrankung zu beachten.

    Unter dem Aspekt von Long-COVID und Post-COVID steht die zweite Frage im Vordergrund, inwieweit begleitend zu den körperlichen Beeinträchtigungen sich einstellende oder verstärkende psychische Beeinträchtigungen im Rahmen der Haftungsausfüllung zusätzlich zu berücksichtigen sind. Dabei sollten folgende denkbare kausale Zusammenhänge bei der gutachterlichen Beurteilung grundsätzlich unterschieden werden:

  • Körperliche Erkrankungsfolgen einer SARS-CoV-2 Infektion, die wegen der (Mit-) betroffenheit eines entsprechenden Organsystems eine direkte (somatische) Erklärung auch für dadurch verursachte psychische Veränderungen liefern könnten.
  • Psychische Veränderungen als Ergebnis einer kognitiven/psychischen Erlebnisverarbeitung im Zusammenhang mit den aufgetretenen postinfektiösen Erkrankungsfolgen.
  • Unter beiden Gesichtspunkten kann nach näherer Prüfung der haftungsausfüllende Kausalzusammenhang zu bejahen sein. Die Prüfkriterien sind allerdings unterschiedlich. Im Übrigen wird davon ausgegangen, dass eine klare Unterscheidung beider Konstellationen nicht immer möglich sein wird oder beide Phänomene ineinandergreifen können. Da gerade auch im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 Infektionen aber stets auch gänzlich andere Ursachen von erkannten psychischen Beeinträchtigungen in Frage kommen, bedarf es immer einer nachvollziehbaren, auf den Einzelfall bezogenen Begründung, ob und inwieweit gemäß einem der obengenannten Aspekte von einer kausalen Zurechnung einer psychischen Veränderung zu der konkreten COVID-Erkrankung mit Wahrscheinlichkeit auszugehen ist; ggf. inwieweit beide Aspekte nebeneinander im Einzelfall erfüllt sind. Unter beiden Aspekten ist es unerlässlich, die in Frage stehende psychische Beschwerdesymptomatik zunächst gemäß den einschlägigen Diagnoseschlüsseln präzise zuzuordnen.

    Zu a): Nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft ist zu begründen, ob im Einzelfall körperliche Erkrankungsfolgen vorliegen, die ihrerseits mit Wahrscheinlichkeit eine unmittelbare oder mittelbare Folge einer SARS-CoV-2 Infektion darstellen und inwieweit wegen der (Mit-)betroffenheit eines entsprechenden Organsystems erklärbar ist, dass dadurch auch psychische Veränderungen verursacht werden; ggf. welche gesicherten Erkenntnisse über die Dauerhaftigkeit solcher Begleitphänomene in Abhängigkeit von den somatischen Befunden bestehen. Besondere Zurechnungsfragen ergeben sich bei dem sog. Fatigue-Syndrom, welches bei den Ursachen für Long-COVID und Post-COVID eine herausragende Rolle spielt. Im Anschluss an die Ausführungen von Dreßing und Meyer-Lindenberg ist darauf hinzuweisen, dass insoweit besonders sorgfältig zu prüfen ist, inwieweit ein solches Phänomen im konkreten Einzelfall auf somatischem Wege durch die initial nachgewiesenen und bei Fortbestand der Fatigue-Erscheinungen durch ebenfalls fortbestehende körperliche Befunde (z. B. Einschränkung der Atem- bzw. Lungenfunktion)mit Wahrscheinlichkeit zu erklären ist. Sofern dies anhand der Umstände des Einzelfalles nicht aufklärbar ist, bedarf es auch für das Fatigue-Syndrom einer psychisch fokussierten Zusammenhangsklärung.

    Zu b): Sowohl hinsichtlich des Spektrums organspezifischer Schädigungen als Folge von COVID-Erkrankungen als auch von dadurch verursachten psychischen Komorbiditäten finden sich in der Literatur allgemeine Hinweise auf vielfältige Krankheitsbilder und Kombinationen. Soweit daraus abgeleitet wird, dass eine COVID-Infektion letztlich für jede danach aufgetretene organbezogene sowie jede begleitend erkannte psychische Beeinträchtigung als mögliche Ursache zu diskutieren sei, mag dies für die Entscheidung über Behandlungsoptionen eine hinreichende Erkenntnis darstellen; diese Erkenntnis allein genügt aber nicht den Anforderungen an eine wissenschaftlich begründete Herleitung eines Kausalzusammenhangs im Einzelfall. Auch aus Beobachtungen von Einzelverläufen ergibt sich gerade im Hinblick auf psychisch vermittelte Kausalverläufe keine abschließende Beurteilungsgrundlage für den Einzelfall.

    Grundsätzlich ist zwar davon auszugehen, dass psychische Reaktionen auf z.B als Bedrohung wahrgenommene Erkrankungen von der Haftungsausfüllung mitumfasst werden . Gerade in den viele Lebensbereiche belastenden Phasen der Corona-Pandemie musste und muss aber damit gerechnet werden, dass andere ebenfalls eine Bedrohung oder Angst auslösende Veränderungen von Lebensumständen als Ursache oder jedenfalls Mitursache der Entwicklung z. B. einer Angststörung in Frage kommen. Versicherungsrechtlich im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität wegen Erkrankungsfolgen abzugrenzen sind auch geschilderte Phänomene dergestalt, dass die aus Gründen eines positiven SARS-CoV-2 Testergebnisses nach den jeweils geltenden Bestimmungen auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes greifende oder verfügte Quarantäne und Isolierung von der Außenwelt eine psychische Störung ausgelöst hat. Es handelt sich insoweit nicht um eine psychische Reaktion auf Erkrankungsfolgen, sondern auf die unabhängig von etwaigen Krankheitsfolgen verfügte Quarantäne. Eine Schlussfolgerung, dass z. B. bei einer nachgewiesenen kognitiven Störung und einer durchgemachten schweren COVID-Infektion ein kausaler Zusammenhang in der Regel zu bejahen sei, wenn zuvor ein unauffälliger Befund vorlag, erscheint daher unter den dargelegten Umständen etwas verkürzt. Vielmehr bedarf es generell einer umfassenden Prüfung und Abwägung der vielfältigen Rahmenbedingungen, die die kognitiven und/oder psychischen Reaktionen von Betroffenen beeinflusst haben können. Im Vordergrund steht dabei im Hinblick auf die besonderen Verhältnisse der Corona-Pandemie die Frage, ob und inwieweit die psychische Beeinträchtigung tatsächlich als eine – subjektive – Reaktion auf eine COVID-Erkrankung anzusehen ist. Neben der auch von den zitierten Autoren genannten Schwere der – körperlichen – Erkrankung (z. B. eine lebensbedrohliche Situation, die eine Posttraumatische Belastungsstörung auslösen könnte) sollten dabei auch berücksichtigt werden:

  • Der konkrete Verlauf der körperlichen Beschwerdesymptomatik im Verhältnis zum Verlauf der psychischen Beschwerdesymptomatik – Erkennbarkeit einer Kongruenz; z. B. Auftreten/Verstärkung der kognitiven/psychischen Beschwerden bei Wiederaufleben infektionsbedingter körperlicher Beschwerden; Erkennbarkeit einer „Entlastungsreaktion“ bei Besserung der körperlichen Beschwerden bzw. Erklärbarkeit des Ausbleibens einer solchen Reaktion.
  • Erkenntnisse über das subjektive Erleben der Schwere der Erkrankung in deren Verlauf; ggf. Abgrenzung von psychischen Reaktion im Zusammenhang mit einer Quarantäne.
  • Das Vorhandensein sonstiger als Bedrohung/Belastung empfundener Lebens- oder Arbeitsumstände, einschließlich Corona-Infektionen anderer Personen im Lebensumfeld. Mögliche Sekundärmotive , die sich Corona-bedingt auch verstärkt haben könnten (z. B. Fernbleiben vom Beschäftigungsbetrieb, Kompensation).
  • Jenseits der Corona-bedingten besonderen Rahmenbedingungen sollten bei der Prüfung einer Zurechnung psychischer Reaktionen auf einen Versicherungsfall im Hinblick auf das Erfordernis eines rechtlich wesentlichen Ursachenzusammenhangs generell neben konkreten schon nachgewiesenen psychischen Vorerkrankungen auch die allgemeine Persönlichkeitsstruktur und Erkenntnisse über Verhaltensweisen in ähnlichen Situationen Berücksichtigung finden.

    Fazit

    Die unter der Bezeichnung Long-COVID sowie Post-COVID zusammengefassten Erkrankungsverläufe nach SARS-CoV-2 Infektionen werfen auch unter dem Aspekt von kognitiven oder psychischen Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen viele herausfordernde medizinische und juristische Fragestellungen auf. Die Autoren Dreßing und Meyer-Lindenberg haben mit ihrer fundieren und umfassenden Darstellung einen grundlegenden Beitrag zu dieser Thematik geleistet. Die hier aus juristischer Sicht eingebrachten Erläuterungen, Ergänzungen und Differenzierungen sollen dabei unterstützen, dass der aus Sicht des Autors dringend notwendige weitere fachliche Diskurs über die angesprochenen Zurechnungsfragen im System der gesetzlichen Unfallversicherung gefördert wird.

    Anschrift des Verfassers:

    Prof. Dr. jur. Stephan Brandenburg
    ehemal. Hauptgeschäftsführer der  Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege
    Pappelallee 35-37
    22089 Hamburg