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Rechtliche und berufskundliche Grundlagen der Begutachtung in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung

„Begutachtung und Leistungsgewährung in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung“ lautete das Thema einer interdisziplinären juristisch-medizinischen Fortbildungsveranstaltung am 8. Mai 2019 in Frankfurt/Main unter Vorsitz von Klaus-Dieter Thomann, veranstaltet vom IVM – Privates Institut für Versicherungsmedizin in Frankfurt.

Ziel der Veranstaltung war es, zu besseren Gutachten zu kommen, welche neutral und nachvollziehbar sein müssen, so Thomann einleitend. Wichtig bei der Beurteilung von Berufsunfähigkeit (BU) sind für den medizinischen Gutachter aber nicht nur eine fundierte medizinisch-fachärztliche Qualifikation, sondern auch Kenntnisse der rechtlichen und berufskundlichen Grundlagen.

Rechtliche Grundlagen der BU-Versicherung

Die Leistungsprüfung in der BU-Versicherung ist medizinisch und rechtlich anspruchsvoll, betonte der Rechtsanwalt Oliver Tammer von der Rechtsanwälte Partnergemeinschaft BLD Bach Langheid Dallmayr, Frankfurt.

Beim Begriff der Berufsunfähigkeit in der BU-Versicherung handelt es sich um einen eigenständigen Rechtsbegriff, der keinesfalls gleichzusetzen ist mit gleich oder ähnlich lautenden Begriffen wie Erwerbsunfähigkeit, Erwerbsminderung oder Dienstunfähigkeit etwa in den verschiedenen Gebieten der Sozialversicherung. Diesen Begrifflichkeiten wohnt für die BU-Versicherung keine – auch keine indizielle – Aussagekraft inne.

Es gilt hier ein dynamischer Berufsbegriff, wobei die konkrete Berufsausübung des Versicherten unmittelbar vor Eintritt des behaupteten Versicherungsfalls maßgeblich ist. Keine Rolle spielen dagegen der zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ausgeübte Beruf oder das allgemeine Berufsbild.

Im Gerichtsprozess ist vor Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens grundsätzlich die konkrete Ausgestaltung der beruflichen Tätigkeit durch Beweisaufnahme (Zeugen) zu klären und dem Sachverständigen vorzugeben (§ 404a Abs. 3 ZPO). Eine eigene Sachverhaltsermittlung (bei unklarer beruflicher Tätigkeit) durch den Sachverständigen darf nicht stattfinden! Sollte sich der Versicherer i. R. seiner Leistungsprüfung mit weniger konkreten Daten zufriedengegeben haben, muss das ggf. im Prozess präzisiert werden.

Grundsätzlich erfolgt eine Bewertung nach Zeitanteilen der jeweiligen beruflichen Einzeltätigkeiten, wobei allerdings die Ausnahme der sog. „prägenden Teiltätigkeit“ zu berücksichtigen ist: Diese liegt vor, wenn ohne die Teiltätigkeit ein sinnvolles Arbeitsergebnis nicht mehr erzielt werden kann. Als klassisches Beispiel nannte Tammer den Baugutachter, der 30 % seiner Arbeitszeit auf Dächern tätig ist, um diese zu inspizieren, und in den restlichen 70 % seine Gutachten verfasst: Wenn er nicht mehr Dächer besteigen kann, dann kann er auch keine Gutachten mehr dazu erstellen.

Maßgeblich (und vom Sachverständigen zu beurteilen) sind nur diejenigen Gesundheitsbeschwerden (nicht: Diagnosen!), auf die der Versicherte sein Leistungsbegehren stützt. Später hinzugetretene Erkrankungen bleiben dagegen im Prozess unberücksichtigt.

Auch muss der medizinische Sachverständige eine prognostische Beurteilung „ex ante“ vornehmen, d. h. vom Zeitpunkt des Eintritts des behaupteten Versicherungsfalls in die Zukunft gerichtet. Der tatsächliche Krankheitsverlauf (bis zum Zeitpunkt der Begutachtung) ist dagegen unerheblich, so der Bundesgerichtshof (BGH).

Berufskundliche Grundlagen der ­Begutachtung in der BU-Versicherung

Unter Beruf wird jede Tätigkeit bezeichnet, die sich im Rahmen der Rechtsordnung bewegt, auf dauerhafte Erwerbserzielung angelegt und geeignet ist, zum Lebensunterhalt des Berufstätigen beizutragen, erklärte der Rechtsanwalt Stefan Wachholz, Leiter der Abteilung Recht & Fachbereichsleiter Vor-Ort-Services bei der Pro Claims Solution GmbH in Unna.

Erforderlich ist, dass der Versicherte, der behauptet, berufsunfähig zu sein, seine Berufstätigkeit in Gestalt einer konkreten Beschreibung der von ihm jeweils ausgeübten Einzeltätigkeiten gezielt in Bezug auf die (mit der behaupteten Behinderung in Verbindung stehenden) körperlichen Beanspruchungen sowie unter Angabe der jeweiligen zeitlichen Anteile an seiner Gesamtarbeitszeit darlegt, möglichst nach Art eines „Stundenplans“.

Grundsätzlicher Maßstab bei der Begutachtung ist der zuletzt ausgeübte Beruf, mit einer Ausnahme: Der sog. leidensbedingte Berufswechsel (wofür der Versicherte beweispflichtig ist). In einem solchen Fall beruht die Aufgabe des qualitativ oder wirtschaftlich höherstehenden Berufes auf Gründen, für deren Folgen der Versicherer gerade einzustehen hat. In diesem Fall soll dann auf die leidensbedingt aufgegebene Tätigkeit bei der Bemessung des BU-Grades abgestellt werden.

Berufsunfähigkeit liegt aber nicht vor, wenn durch zumutbare Schutzmaßnahmen (z. B. Tragen von Handschuhen), Anstrengungen, Umstellungen bzw. Kompensationsmaßnahmen (Hilfsmittel wie Brillen etc.) eine über 50 %liegender beruflicher Einsatz möglich ist. Auch das Einlegen von zusätzlichen Pausen ist zum Erhalt der Berufsfähigkeit zumutbar, sofern dadurch noch eine wertbringende Arbeit darstellbar erscheint. Das ist etwa möglich bei einem selbständigen Steuerberater, der die Kundengespräche selbst terminieren kann, nicht aber bei einem Fließbandarbeiter, erläuterte Wachholz.

Auch zum Thema der „prägenden Teiltätigkeit“ führte Wachholz ein einleuchtendes Beispiel an: Ein Notarzt, dessen körperliche Anforderungen beim konkreten Einsatz ja nicht im Voraus feststehen, ist berufsunfähig, wenn ihm etwa die Behandlung liegender Verletzter in knieender Stellung nicht möglich ist – auch wenn solche Einsätze nur einen geringen zeitlichen Anteil seiner gesamten Tätigkeit ausmachen.

Qualitätsmanagement in der ­BU-Begutachtung

Berthold Schröder, Facharzt für Allgemein- und Arbeitsmedizin, stellte das von ihm bei der Allianz Lebensversicherung vor ca. sechs Jahren etablierte Qualitätsmanagement in der BU-Begutachtung vor. Kernelement der BU-Leistungsprüfung ist die Gegenüberstellung des Restleistungsvermögens zu den konkreten beruflichen Anforderungen. Dies setzt eine genaue Sachverhaltsermittlung sowohl der beruflichen Tätigkeit als auch der medizinischen Beeinträchtigungen voraus.

Die Qualität der beauftragten BU-Gutachten wird dann anhand folgender Kriterien (die entwickelt worden waren für Gutachten der Deutschen Rentenversicherung) durch Gesellschaftsärzte mit Facharztqualifikation beurteilt:

  • Wurden die im Gutachtenauftrag gestellten Fragen vollständig beantwortet?
  • Ist das Gutachten für die Leistungs­beurteilung aussagekräftig?
  • Ist die Argumentationskette in sich plausibel und schlüssig?
  • Sind die Einschätzungen nachvollziehbar?
  • Werden durch das Gutachten juristische Angriffspunkte aus­geräumt?
  • Wurde eine wissenschaftliche ­Leit­linie benutzt?
  • Der Pflege und Weiterentwicklung der Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) kommt in der BU-Begutachtung eine hohe Bedeutung zu, erklärte Schröder abschließend.

    G.-M. Ostendorf, Wiesbaden