56. TCM Kongress Rothenburg, 28–31. 5. 2025
Umfangreiche aktuelle Informationen zum Konzept der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) gab es auf dem 56. TCM Kongress Rothenburg vom 28. bis 31. Mai 2025 in Rothenburg ob der Tauber, organisiert von der AGTCM (Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur und Traditionelle Chinesische Medizin). Am Thementag zur TCM-Forschung, dem 30. Mai 2025, gab es dazu interessante Informationen zu den Ursprüngen und Grundlagen der TCM sowie zum erkenntnistheoretischen Konzept des „Konstruktiven Realismus“ als Erklärungsmodell der TCM.
Dieses einzigartige Treffen bringe Wissenschaftler zusammen, um die Schnittstellen von TCM und Konstruktivem Realismus zu diskutieren, mit einem Schwerpunkt auf Relationalität, metaphorischem Denken und der subjektiven Natur der Gesundheit. Zu den Themen gehören Neuinterpretationen klassischer TCM-Texte, die philosophischen und kulturellen Konstrukte von Meridianen und die methodische Innovation der „Strangifizierung“, welche die kontextuellen und erfahrungsbezogenen Dimensionen der Heilung betont.
Die chinesische Medizin ist ein Konstrukt, ein in sich geschlossener Mikrokosmos, der auf der Idee der Einheit von Himmel, Erde und Menschheit basiert, erklärte die Heilpraktikerin Andrea Mercedes Riegel aus Oftersheim. Die komplexen Theorien der chinesischen Medizin basieren auf diesem Konzept der Einheit dieser drei Dimensionen und verwenden Metapher und Analogie als ihre Hauptmethoden. Die grundlegende schriftliche Referenz sei das daoistisch-konfuzianisch beeinflusste Buch der Wandlungen, das diese Idee perfekt widerspiegele, insbesondere durch die Symbolik der acht Trigramme, ihre Anordnung in den Hetu- und Luoshu-Diagrammen und die 64 Hexagramme.
Um die komplexen Zusammenhänge innerhalb der Struktur der chinesischen Medizin und die Überlegungen zu ihren diagnostischen und therapeutischen Ansätzen zu verstehen, seien geeignete Übersetzungen der klassischen Texte erforderlich. Weder sinologisch präzise Übersetzungen noch solche, die ausschließlich auf praktischer Erfahrung ohne sinologische Grundlage basieren, seien ausreichend. Erforderlich sei ein tiefes Eintauchen in die Kultur dieser Medizin und ein Verständnis für die Natur dieses Konstrukts.
Die traditionelle Akupunkturtheorie, die ihren Ursprung in der Antike hat, ist tief von den kulturellen Merkmalen Chinas geprägt, berichtete Song Bingxin aus Kanada. Beeinflusst durch Faktoren wie den historischen Kontext, kulturelle Unterschiede und Denkweisen sei die Interpretation und das Studium der traditionellen Akupunkturtheorie heute eine Herausforderung. Frühere westliche Naturwissenschaftsforscher haben sogar die Theorie der Meridiane in Frage gestellt, weil sie keine materielle Grundlage für die Meridiane identifizieren konnten.
In ähnlicher Weise erklärte Florian Beißner, Professor für Systemische Neurowissenschaften an der Medizinischen Hochschule Hannover und Leiter des Insula-Instituts für integrative Therapieforschung in Hannover, dass die Meridiane der TCM kulturelle Konstruktionen darstellen, die medizinische und philosophische Rahmenbedingungen verschmelzen.
Besonders geehrt wurde auf dem Symposium Friedrich Wallner, Universitätsprofessor für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Wien, zu seinem 80. Geburtstag. Seine Spezialgebiete sind u. a. Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie der Klassischen Chinesischen Medizin und Psychotherapie sowie Interkulturelle Philosophie.
Durch die Entwicklung des „Konstruktiven Realismus“ habe Wallner bahnbrechende Beiträge auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie geleistet und das Verständnis und die Integration östlicher und westlicher medizinischer Traditionen tiefgreifend beeinflusst. Vor dem Hintergrund der Kulturabhängigkeit der Wissenschaft arbeite Wallner intensiv an der argumentativen Struktur der TCM mit dem Ziel, die wissenschaftliche Grundlage für die Erforschung der TCM zu schaffen sowie die wissenschaftliche Forschung auf der Basis von Konzepten der Wissenschaftstheorie zu verfeinern.
Wallner selbst führte aus, der Konstruktive Realismus zeige, dass westliche Heilungskonzepte einseitig oder unvollständig seien. Der grundlegende Unterschied der TCM zur westlichen Medizin bestehe darin, dass das Individuum als Ganzes nicht auf ein Objekt reduziert werde – stattdessen werden gedankliche Zusammenhänge genutzt, um die unbemerkten Grundfaktoren einer Krankheit aufzudecken. Dieser Ansatz basiere auf einer Methodik, die „Strangifizierung“ genannt werde.
Strangifizierung sei eine sprachliche Methode, welche die Grenzen der Gültigkeit einer Definition oder Erkenntnis sichtbar mache. Diese Methodik basiere nicht auf einem vordefinierten Idealzustand, sondern zeigt mehrere Wege zur Heilung auf. Anders als in der westlichen Medizin bestehe das Ziel nicht darin, den erkrankten Körper in einen durch medizinische Forschung definierten Zustand wiederherzustellen, sondern ihn vor dem Hintergrund mehrerer Episoden körperlichen Verhaltens zu interpretieren. Der grundlegende Unterschied liege darin, dass die Gesundheit des Körpers nicht objektiv definiert werde, sondern aus einer Vielzahl subjektiver Erfahrungen hervorgehe.
Aus gutachtlicher Sicht ist dazu anzumerken, dass solche historisch-kulturelle, philosophische und erkenntnistheoretische Ausführungen zur TCM durchaus interessant sind. Zur Begutachtung etwa der medizinischen Notwendigkeit einer Behandlung – auch nach dem Konzept der TCM – ist jedoch das moderne westliche (natur-)wissenschaftliche Konzept zu Grunde zu legen.
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden