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Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung in der psychiatrischen Begutachtung für die Berufsunfähigkeitsversicherung

„Die schwierige Schnittstelle von Medizin und Recht“ in der Beurteilung psychischer Störungen in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung beschreibt der Fachanwalt für Versicherungsrecht Kai-Jochen Neuhaus in der Fachzeitschrift „Versicherungsrecht“. So muss etwa die Beschwerdenschilderung des Versicherten (im Prozess des Klägers) vom Sachverständigen überprüft werden, wobei streng zwischen (subjektiver) Beschwerdeschilderung und (objektiven) Befunden zu unterscheiden ist.

Die gutachtliche Aussage allein, dass der Versicherte beispielsweise an Konzentrationsstörungen oder Gedächtnisausfällen leide, genügt nicht, weil der Nachweis dafür zu erbringen ist. Schwierigkeiten bei der Objektivierbarkeit psychischer Befunde ändern grundsätzlich nichts an den Anforderungen, welche an den gutachtlichen Nachweis gestellt werden, denn der medizinische Gutachter steht in der Pflicht, eine Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung vorzunehmen, betont Neuhaus.

Der Sachverständige darf daher die Angaben des Versicherten nicht unbesehen hinnehmen, sondern muss sie einer eingehenden Prüfung mit den hierfür zur Verfügung stehenden Methoden und testpsychologischen Verfahren unterziehen. Zudem kommt es auch auf das Beobachten des Verhaltens des Versicherten zu den maßgeblichen Zeitpunkten der Diagnosestellung an.

Auch wenn sich ein Befund aus einer validen Beschwerdenschilderung ergeben kann, muss sich dem Gutachten in jedem Fall die eingehende Exploration des Versicherten sowie eine kritische Prüfung der Beschwerdenschilderung dahingehend entnehmen lassen, ob die Beschwerden den Versicherten tatsächlich daran hindern, seine konkrete berufliche Tätigkeit auszuüben.

Neuhaus geht dabei auch auf das Problem von Verfälschungstendenzen wie Aggravation und Simulation ein und erklärt, dass gerade depressive Erkrankungen potentiell anfällig für das Auftreten von (unbewussten oder bewussten) Verfälschungstendenzen sind: So sind etwa Depressionen häufige und bekannte Erkrankungsbilder, was die Krankheit besonders nachvollziehbar und leichter aggravierbar macht. Auch können Betroffene, die unter dem Gefühl leiden, ihre Erkrankung werde nicht wirklich wahrgenommen, durch bewusstes Aggravieren ihr persönliches Leid unterstreichen (sog. sekundärer Krankheitsgewinn).

Zudem sind in der Berufsunfähigkeitsversicherung auch monetäre Aspekte zu berücksichtigen – die Verfälschung kann auch allein auf einem Rentenbegehren beruhen. Um Fehlentscheidungen so weit wie möglich zu reduzieren, ist es daher zwingend notwendig, dass der Sachverständige sich in seinem Gutachten dazu äußert, ob der Versicherte simuliert oder aggraviert.

Nicht selten sprechen Sachverständige im Gutachten von „Tendenzen zur Aggravation“, so Neuhaus. Gemeint sei dann allerdings in der Regel, dass der Untersuchte tatsächlich aggraviere.

In der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) als Grundlage für die Bewertung der beruflichen Leistungsfähigkeit wird nachdrücklich eine Beschwerdenvalidierung als unverzichtbarer Bestandteil jeder Begutachtung seelischer Störungen gefordert, die auf eine möglichst breite methodologische Grundlage zu stellen ist. Zur Aufdeckung solcher Verfälschungstendenzen wurden sog. Beschwerdenvalidierungstests entwickelt.

Beweisrechtlich gilt dann im Gerichtsverfahren: Stellt der Sachverständige Verfälschungstendenzen fest und ergeben sich bei den Beschwerdenvalidierungstests auffällige und nicht erklärbare Antwortverzerrungen, verbunden mit einem suboptimalen Leistungsverhalten, schließt das regelmäßig den Beweis eines bedingungsgemäßen Maßes der beruflichen Beeinträchtigung aus. Das gilt auch für unbewusste Antwortverzerrungen, da der Versicherer „nichts dafür kann“, wenn diese beim Versicherten vorliegen, erklärt Neuhaus. Für die Einholung eines weiteren medizinischen Sachverständigengutachtens („Obergutachten“) bestehe dann keine Veranlassung.

Aus prozessualer Sicht entscheidend ist hier die Frage der Beweislast:

  • Da der Versicherte in der Erstprüfung die Beweislast für den Umfang der (von ihm behaupteten) Berufsunfähigkeit hat, gehen verbleibende Zweifel aufgrund einer Aggravation zu seinen Lasten.
  • Im Nachprüfungsverfahren, also nach früherer Anerkennung der Berufsunfähigkeit durch die Versicherung, wo eigentlich diese den Wegfall der Voraussetzungen für Berufsunfähigkeit beweisen muss, führen Antwortverzerrungen ausnahmsweise zu einer Umkehr der Beweislast: Der Versicherte muss dann beweisen, dass weiterhin Berufsunfähigkeit besteht.
  • Neuhaus, K.-J. (2021) Psychische Störungen in der Berufsunfähigkeitsversicherung – Die schwierige Schnittstelle von Medizin und Recht. Versicherungsrecht, 21, 1329-1352.

    G.-M. Ostendorf, Wiesbaden