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Alternativmedizinische Konzepte kritisch analysiert

Medizinische Sachverständige, die (angeblich) naturheilkundliche bzw. alternativmedizinische Behandlungen begutachten sollen (etwa für die private Krankenversicherung – PKV), haben gerade in Zeiten des Lockdowns oft Schwierigkeiten, sich über die Trends in diesem Bereich auf dem Laufenden zu halten, zumal es dazu nur sehr wenige (kritische) wissenschaftliche Publikationen in der medizinischen Fachpresse bzw. Beiträge in Fortbildungsveranstaltungen gibt.

Um für entsprechende Fälle eine Hilfe zu geben, hier eine Zusammenstellung von Berichten über Publikationen und Vorträge auf medizinischen Tagungen und Kongressen (online) aus den letzten Monaten über einschlägige Themen; von fragwürdiger Labordiagnostik zu Borreliose über alternativmedizinische Konzepte etwa bei Erkrankungen des Darmtrakts oder in der Onkologie sowie über Behandlungen nach dem Konzept der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) bis hin zur Ozon-Eigenblut-Therapie durch Heilpraktiker.

Dass gerade naturheilkundliche bzw. komplementär eingesetzte Behandlungsmethoden sich bei bestimmten Indikationen als durchaus wirksam erweisen können, etwa Probiotika beim Reizdarmsyndrom oder Tai-Chi sowie Akupunktur bei Rückenschmerzen, wird dabei keinesfalls verschwiegen!

Begriffsdefinitionen:
Naturheilkunde, Komplementär­medizin und Alternativmedizin

Ärztliche Naturheilkunde und Komplementärmedizin sind nicht Alternativen zur Schulmedizin, sondern werden als Ergänzung dazu eingesetzt, erklärte Andreas Michalsen von der Charité – Universitätsmedizin Berlin und Chefarzt der Abteilung für Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus in Berlin auf dem 11. Psychiatrie-Update-Seminar am 26. und 27. Februar 2021 (Livestream-Veranstaltung).

Als „alternative“ Therapien dagegen werden experimentelle Verfahren bezeichnet, deren Wirksamkeit nicht belegt ist und die als Methoden keine Plausibilität aufweisen. Sie sind kein Bestandteil der Integrativen Medizin, d. h. der sinnvollen Kombination von Naturheilkunde (und auch wissenschaftlich geprüften komplementärmedizinischen Verfahren) mit konventioneller „Schul“-Medizin.

Fragwürdige Labordiagnostik von ­Borreliose

Vor fragwürdigen, angeblich „neuen“ diagnostischen Möglichkeiten bei (vermeintlicher) Borreliose warnte Volker Fingerle, Leiter des Nationalen Referenzzentrums für Borrelien am Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit in Oberschleißheim, auf dem 9. Infektiologie-Update-Seminar am 7. und 8. Mai 2021 (Livestream-Veranstaltung).

So wird immer häufiger der sog. ELISPOT für die Diagnostik der Lyme-Borreliose eingesetzt, obwohl relevante klinische Studien, welche die Sinnhaftigkeit dieses Tests für die Diagnostik der Lyme-Borreliose darstellen, nicht existieren. Im Gegenteil gibt es mittlerweile 3 Studien von unabhängiger Seite, welche aufzeigen, dass dieser Test für die Diagnostik der Neuroborreliose ungeeignet ist.

Auch für die Dunkelfeldmikroskopie aus Patientenblut zum Nachweis chronischer Borrelieninfektionen (oder Ko-Infektionen) gilt das Gleiche: In einer Studie etwa konnten bei immerhin 60 % der Teilnehmer mit Verdacht auf chronische Infektion entsprechende Strukturen im Dunkelfeld gefunden werden, allerdings auch bei 80 % der Kontrollpersonen.

Leider finden sich in der Unzahl an „neuen“ diagnostischen Methoden – wie Lymphozytentransformationstest (LTT), Nachweis von Prophagen, CD57+/CD3- Lymphozyten Subpopulation, HLA-Typisierung und viele mehr – keine, welche die empfohlenen Methoden (Serologie, Liquordiagnostik, PCR und Anzucht) übertreffen, kritisierte Fingerle. Meist gebe es nicht einmal eine ansatzweise sinnvolle Validierung der Leistungsdaten (1).

Problematische Konzepte beim „Leaky-Gut-Syndrom“ und beim Reizdarmsyndrom

Das gastrointestinale Mikrobiom hat in den letzten Jahren enorme Aufmerksamkeit erfahren, berichten Miriam Goebel-Stengel von der Helios Klinik Rottweil und Andreas Stengel vom Universitätsklinikum Tübingen, Innere Medizin IV, in der Zeitschrift für Allgemeinmedizin „tägliche praxis“ (2).

Eine Translation in die Klinik ist bislang jedoch auf breiter Basis nicht gelungen. Insbesondere ist eine Analyse des Darm-Mikrobioms ohne spezielle Fragestellung nicht zielführend, da keine therapeutischen Konsequenzen abgeleitet werden können.

Aus gutachtlicher Sicht sind hierbei v. a. naturheilkundliche bzw. alternativmedizinische Konzepte etwa der „Dysbiosediagnostik“ kritisch zu sehen, wie sie gerade von der privaten Krankenversicherung immer wieder zur Beurteilung vorgelegt werden:

„Leaky-Gut-Syndrom“

So ist der aus der Naturheilkunde stammende Begriff „Leaky-Gut-Syndrom“ problematisch: „Leaky Gut“ bezeichnet eine erhöhte Permeabilität der Darmwand gegenüber Bakterienprodukten oder toxischen Substanzen. Wichtig sind in diesem Kontext Studien bei Patienten mit entzündlichen oder ulzerierenden Darmerkrankungen, welche durch eine Darmschädigung eine – vorübergehende – Permeabilitätsstörung aufweisen. Hier zeigte sich aber ganz klar, dass allein eine Wiederherstellung der Darmbarriere nicht zu einer Heilung der Erkrankung führte, erklären die Autoren.

Der Nachweis einer intestinalen Permeabilitätsstörung geling bisher nur experimentell. Aufgrund fehlender Validierung, Standardisierung und Reproduzierbarkeit ist eine klinische Routine-Testung bisher weder möglich noch sinnvoll.

Reizdarmsyndrom

Für Patienten mit einem Reizdarmsyndrom konnte zwar nachgewiesen werden, dass die Zusammensetzung des Darm-Mikrobioms im Vergleich zu Gesunden variiert. Die Studienlage zur Frage, für welche Bakterien qualitative und quantitative Unterschiede bestehen, ist jedoch widersprüchlich. Daher können kommerzielle Tests zur Bestimmung des gastrointestinalen Mikrobioms und zum Nachweis einer Dysbiose derzeit nicht empfohlen werden.

Allerdings bleibt abzuwarten, ob eine gezielte Modulation des gastrointestinalen Mikrobioms mittels Prä-, Pro-, Syn- oder Parabiotika eine Therapie-Option in der Behandlung z. B. somatoformer Darmerkrankungen darstellen wird, so die Autoren abschließend.

Probiotika als Therapieoption beim Reizdarmsyndrom

Darauf, dass Probiotika insgesamt eine gute Wirksamkeitsevidenz beim Reizdarmsyndrom haben, wies ebenfalls Peter Layer, Chefarzt der Medizinischen Klinik und Ärztlicher Direktor am Israelitischen Krankenhaus Hamburg, auf dem 15. DGIM-Internisten-Update-Seminar am 13. und 14. November 2020 (Livestream-Veranstaltung) hin. Allerdings sind die Effekte in der Regel nur moderat und im Einzelfall praktisch nie voraussehbar. Dies betrifft sowohl den einzelnen Patienten als auch die Symptome sowie die Präparate.

Zu bedenken ist auch, dass Probiotika aus vitalen Bakterien oder Pilzen ein mögliches Risikopotenzial mit sich führen können, das bislang unterschätzt wurde. Ein Hinweis darauf findet sich im Rote-Hand-Brief für Saccharomyces boulardii/cerevisiae vom 22.01.2018, der warnend darauf hinweist, dass Einzelfälle von Fungämie mit Todesfolge berichtet wurden bei schwer kompromittierten Patienten; daraufhin besteht jetzt eine Kontraindikation (für dieses im Übrigen sehr bewährte und populäre Präparat) bei schwerkranken und/oder immunsupprimierten Patienten.

Dessen ungeachtet kann Saccharomyces boulardii – ebenso wie die Vielzahl der bakteriellen Probiotika – eine sehr sinnvolle, meist adjuvante Therapieoption in fast allen Konstellationen darstellen. Begünstigt wird dies durch die in der Regel sehr hohe Patientenakzeptanz und die überwiegend exzellente Verträglichkeit, führte Layer aus.

Zu berücksichtigen ist dabei aber grundsätzlich, dass es nur für wenige probiotische Präparate kontrollierte Studien mit ausreichender Qualität gibt, sodass die Evidenz auch bei einer praktisch nicht überschaubaren Zahl an (meist schwachen) Studien und 164 Metaanalysen (!) dennoch oft wenig eindrucksvoll erscheint und nur für relativ wenige Präparate überzeugend ist.

Vor diesem Hintergrund empfiehlt die aktuelle (erst nach dem Vortrag, im Juni 2021 endgültig publizierte) S3-Leitlinie „Reizdarmsyndrom“ (3) den Einsatz ausgewählter Probiotika bei der Behandlung des Reizdarmsyndroms („… sollten … eingesetzt werden“; diese Empfehlung ist deutlich stärker im Vergleich zur letzten Leitlinie, bei der die Formulierung hieß „… können … eingesetzt werden“ und bedeutet somit eine wesentliche Aufwertung).

Probiotika sollten bei den meisten Patienten mit Reizdarmsyndrom eine Komponente der Therapie bilden, kommentierte Layer den aktuellen Kenntnisstand. Dabei sollten insbesondere ausgewählte Präparate mit solider Evidenz primär eingesetzt werden. Andererseits sei einzuräumen, dass für kein Präparat im Einzelfall eine verlässliche Vorhersage der Wirksamkeit getroffen werden könne und dass erfahrungsgemäß auch Präparate ohne Studienevidenz bei einzelnen Patienten hilfreich sein können. Insofern gelte bei diesem therapeutischen Ansatz noch mehr als bei vielen anderen Behandlungsformen des Reizdarmsyndrom die klassische Regel „wer heilt, hat recht“.

Kommentar aus gutachtlicher Sicht

Hier zeigt sich (wieder einmal), dass auch Behandlungsmethoden bzw. Medikamente der sogenannten komplementären Medizin durchaus wirksam sein können, wobei die Wirksamkeit selbstverständlich nachgewiesen werden muss. Somit kann aus gutachtlicher Sicht ein Behandlungsversuch mit einem Probiotikum beim Reizdarmsyndrom zumindest über einige Wochen, bei erfolgreicher Therapie durchaus auch länger, als medizinisch notwendige Heilbehandlung anerkannt werden.

Literatur

1 Fingerle, V., Sing, A. (2020). Lyme Borreliosis: Serological and microbiological diagnostics and differential diagnosis. Dtsch Med Wochenschr. 1, 29–34.

2 Goebel-Stengel, M., Stengel, A. (2021). Neues zur funktionellen und klinischen Relevanz des gastrointestinalen Mikrobioms. tägliche praxis 64/3, 415-423.

3 Layer, P., Andresen, V., Allescher, H. et al. (2021). Update S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom: Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Reizdarmsyndroms der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) und der Deutschen Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität (DGNM); AWMF-Registriernummer: 021/016