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LSG Thüringen, Beschluss vom 11. April 2023 - L 1 U 1380/19 § 118 Abs.1 SGG; §§ 406, 42 ZPO


Tenor
Der Antrag der Klägerin vom 1. März 2023, den Sachverständigen H wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, wird abgelehnt.

Gründe

I.

Die Klägerin begehrt in der Hauptsache die Feststellung weiterer Unfallfolgen hinsichtlich eines anerkannten Arbeitsunfalles vom 26. August 2015 - insbesondere auf psychiatrischem Fachgebiet -, die Feststellung des weiteren Vorliegens einer unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit und die Gewährung einer Verletztenrente.

In einem von der Klägerin angestrengten Klageverfahren hat das Sozialgericht Altenburg unter Abweisung der Klage im Übrigen durch Urteil vom 16. Oktober 2019 festgestellt, dass als weitere Unfallfolge eine Anpassungsstörung mit einer längeren depressiven Reaktion und ab 1. Juli 2016 eine Angst und Depression gemischt vorliegen und die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bis 31. Juli 2016 40 v.H.  und darüber hinaus 20 v.H. beträgt. Des Weiteren hat es unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit bis 30. Juni 2016 festgestellt.

Im von der Beklagten angestrengten Berufungsverfahren hat der zuständige Berichterstatter des 1. Senats mit Beweisanordnung vom 18. Februar 2022 den Psychiater H mit der Erstellung eines Gutachtens nach § 106 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beauftragt. Unter dem 30. November 2022, beim Landessozialgericht am 6. Dezember 2022 eingegangen, hat dieser sein Gutachten erstellt und festgestellt, dass als Folge des schädigenden Ereignisses vom 26. August 2015 eine Anpassungsstörung mit Angst und depressiver Reaktion gemischt nach ICD-10: F43.22 vorgelegen habe, welche zumindest seit Dezember 2018 abgeklungen sei. Die aktuell vorliegende Störung einer gemischten Angst- und depressiven Störung sei nicht durch das Ereignis vom 26. August 2015 verursacht worden. Bis August 2016 liege eine MdE im rentenberechtigenden Umfang vor und für die Zeit danach nicht mehr. Dieses Gutachten wurde den Beteiligten durch Verfügung des Berichterstatters vom 9. Dezember 2022 zur Kenntnis und Stellungnahme bis 15. Februar 2023 zugeleitet. Mit Schriftsatz vom 6. Februar 2023 legte die Beklagte eine Stellungnahme ihres Beratungsarztes M vom 16. Januar 2023 vor. Der Prozessbevollmächtigten der Klägerin wurde durch Verfügung des zuständigen Berichterstatters Fristverlängerung für eine Stellungnahme bis zum 1. März 2023 gewährt.

Durch am 1. März 2023 eingegangenen Schriftsatz hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Sachverständigen H für befangen erklärt.

II.

Die Ablehnung des Sachverständigen H ist statthaft; sie ist auch nicht verspätet geltend gemacht worden. Sie hat allerdings in der Sache keinen Erfolg.

Nach § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. §§ 406 Abs. 1 Satz 1, 42 Abs. 1 und 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) kann ein gerichtlich bestellter Sachverständiger aus denselben Gründen, die zur Ablehnung eines Richters berechtigen, wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Der Ablehnungsantrag ist nach § 406 Abs. 2 Satz 1 ZPO bei dem Gericht oder Richter, von dem der Sachverständige ernannt ist, vor seiner Vernehmung zu stellen, spätestens jedoch zwei Wochen nach Verkündung oder Zustellung des Beschlusses über die Ernennung. Zu einem späteren Zeitpunkt ist die Ablehnung nur zulässig, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass er ohne sein Verschulden verhindert war, den Ablehnungsgrund früher geltend zu machen (§ 406 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Dies trifft grundsätzlich zu, wenn die Klägerin – wie hier – den Ablehnungsgrund aus dem Inhalt des Gutachtens herleitet (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 13. Auflage 2020, § 118 Rn. 121).

In diesem Fall ist der Ablehnungsantrag ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 Abs. 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches <BGB>), d. h. innerhalb einer den Umständen des Einzelfalls angepassten Prüfungs- bzw. Überlegungsfrist, und zwar unabhängig von der Prozesslage, zu stellen (vgl. Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 29. Juni 2006 – L 6 RJ 132/04 –, Juris). Der Bundesgerichtshof (BGH) hält einen Befangenheitsantrag zumindest dann nicht für verspätet, wenn er innerhalb der zur Stellungnahme zum Gutachten gesetzten Frist eingereicht wird und sich die Besorgnis der Befangenheit erst aus einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem schriftlichen Gutachten ergibt (vgl. Beschluss vom 15. März 2005 – VI ZB 74/04, NJW 2005, S. 1869, 1870; KG Berlin, Beschluss vom 16. Juni 2021 – 16 WF 82/21 –, Juris).

Entsprechend diesen Grundsätzen hat die Klägerin den Ablehnungsantrag rechtzeitig im Sinne von § 406 Abs. 2 ZPO gestellt. Das Ablehnungsgesuch ist daher nicht verspätet. Denn das schriftliche Gutachten des H ist der Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit gerichtlicher Verfügung vom 13. Dezember 2022 zur Stellungnahme unter Fristsetzung übersandt worden. Den Befangenheitsantrag hat die Klägerin mit am 1. März 2023 beim Landessozialgericht eingegangenem Schriftsatz innerhalb der gesetzten Stellungnahmefrist gestellt. Die Klägerin stützt ihren Befangenheitsantrag ausschließlich auf die schriftlichen Ausführungen des Sachverständigen in seinem Gutachten vom 30. November 2022.

Entgegen der Ansicht der Klägerin liegen aber keine Gründe vor, die geeignet sind, die Besorgnis der Befangenheit zu rechtfertigen. Nach § 42 Abs. 2 ZPO findet die Ablehnung eines Richters - hier eines Sachverständigen - wegen Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters - hier eines Sachverständigen - zu rechtfertigen.

Ob diese Voraussetzungen vorliegen, bestimmt sich nicht nach der subjektiven Sicht des Ablehnenden. Maßgeblich ist vielmehr, ob vom Standpunkt des Beteiligten aus bei vernünftiger Betrachtung objektiv die Besorgnis begründet ist, der Sachverständige werde sein Gutachten nicht unparteilich erstellen. Rein subjektive unvernünftige Vorstellungen und Gedankengänge des Ablehnenden scheiden somit aus. Unerheblich ist, ob der gerichtlich beauftragte Sachverständige tatsächlich parteilich ist oder ob das Gericht Zweifel an der Unparteilichkeit hegt; entscheidend ist allein, ob für die das Ablehnungsgesuch stellende Beteiligte der Anschein einer nicht vollständigen Unvoreingenommenheit und Objektivität besteht (vgl. Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Aufl. 2022, § 406 ZPO Rdnr. 6 m. w. N.). Dabei sind nach § 118 Abs. 1 SGG i. V. m. § 406 Abs. 3 Satz 1 ZPO bzw. § 60 Abs. 1 SGG i. V. m. § 44 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 ZPO die Ablehnungsgründe glaubhaft zu machen.

Hieran fehlt es. Die Klägerin rügt der Sache nach ausschließlich inhaltliche Mängel des Gutachtens. Der Antrag wird ausschließlich auf Umstände gestützt, die ihre Ursache in einer Auseinandersetzung mit dem sachlichen Inhalt des schriftlichen Gutachtens des gerichtlichen Sachverständigen haben. Unzulänglichkeiten oder Fehlerhaftigkeit mögen das Gutachten entwerten, rechtfertigen für sich allein aber nicht die Ablehnung des Sachverständigen wegen Befangenheit (OLG Hamm, Beschluss vom 8. Oktober 2021 – I-29 W 48/21 –, Juris).  Die Klägerin rügt, der Sachverständige habe in seinem Gutachten die rechtlichen Anforderungen an psychiatrische Gutachten verkannt und insbesondere die aktuellen Diagnosesysteme des ICD-10 und DSM 5 und die Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) nicht zugrunde gelegt. Sein Gutachten beruhe weder auf dem aktuellsten Stand der ICD-10 bzw. des DSM-5 noch auf den Begutachtungsleitlinien der AWMF in der aktuellsten Fassung. Das Gutachten lasse ferner jegliche Angabe der diagnostischen Methode vermissen. Zwar finde das Diagnosesystem des ICD-10 im Gutachten Erwähnung, allerdings werde nicht der aktuelle Stand angegeben. Im Gegensatz hierzu habe der Vorgutachter D in seinem Gutachten die verschiedenen Diagnosen nach ICD-10 dargestellt und jeweils diskutiert. Auch die Kausalitätsbeurteilung genüge nicht den Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften. Es sei nicht vorstellbar, dass H die Anforderungen an psychiatrische Gutachten nicht bekannt seien und nur ein entschuldbarer error in procedendo vorliege.

Damit erhebt sie den Vorwurf einer fehlerhaften Gutachtenserstattung aufgrund mangelnder Sorgfalt. Dieser Vorwurf begründet aber regelmäßig nicht die Besorgnis der Befangenheit, weil er nicht die Unparteilichkeit des Sachverständigen betrifft.  Sie sind deshalb einer Würdigung im Rahmen eines Befangenheitsantrages nicht zugänglich. Inwieweit der Sachverständige den bestehenden Anforderungen in seinem Gutachten genügt hat, ist eine Frage der inhaltlichen Richtigkeit seiner Ausführungen und mag dem Senat beispielsweise Veranlassung geben, eine ergänzende Stellungnahme einzuholen. Ob die Kritik der Klägerin an den Ausführungen des Sachverständigen inhaltlich berechtigt ist, kann daher dahinstehen. Diese inhaltlichen Rügen sind nämlich nicht im Rahmen eines Ablehnungsverfahrens, sondern im Hauptsacheverfahren zu klären.

Insgesamt kommt der Senat damit zu dem Ergebnis, dass eine Besorgnis der Befangenheit gegenüber dem Sachverständigen H nicht begründet ist.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).