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Urteile zur Haftpflicht im medizinischen Bereich, Teil 2

In der Zeitschrift „Versicherungsrecht“ wird regelmäßig über Urteile in Prozessen zur Haftpflicht im medizinischen Bereich berichtet, welche meist nicht nur für medizinische (Gerichts-)Sachverständige von Interesse sind, sondern gerade auch für Ärzte der entsprechenden Fachrichtungen. Besondere Bedeutung kommt dabei den grundlegenden Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGB) zu.

Bedeutung des Befunderhebungsfehlers

Bei der Abgrenzung von Diagnose- und Befunderhebungsfehlern spielen die Plausibilität und die Eindeutigkeit einzelner Befunde sowie die Häufigkeit und die Gefährlichkeit der in Betracht zu ziehenden Erkrankungen eine Rolle, so der erste Leitsatz eines Urteils des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt vom 22.12.2020 (AZ: 8 U 142/18).

Zu entscheiden war der Fall einer zur Zeit der Behandlung 70 Jahre alten Patientin, die von dem beklagten Orthopäden über mehrere Wochen hinweg wegen eines vermeintlichen großen Hämatoms am Oberschenkel behandelt worden war, obwohl es sich – wie sich später herausstellte – um ein undifferenziertes pleomorphes Adenom handelte. Tatsächlich war jedoch schon aufgrund der Anamnese keine hinreichende Diagnose für die Diagnose eines Hämatoms gegeben. Auch die vom Orthopäden durchgeführten bzw. veranlassten Untersuchungen mittels Röntgen und (später) Sonographie waren nicht geeignet gewesen, eine hinreichende Basis für die Annahme eines Hämatoms zu schaffen und einen Tumor auszuschließen, wie vom orthopädischen Gerichtssachverständigen ausgeführt.

Die von dem beklagten Orthopäden betriebene Diagnostik war somit nicht geeignet gewesen, die Erkrankung der (nach 2 Jahren an dem metastasierten Tumor verstorbenen) Patientin zuverlässig einzuordnen. Er war vorschnell aufgrund unzureichender Untersuchungen zu einer Diagnose gelangt und hatte dabei insbesondere die gefährliche Differenzialdiagnose eines Weichteiltumors nicht ausgeschlossen. Das ist aber – so das OLG – ein klarer Befunderhebungsfehler.

Für den medizinischen (Gerichts-)Sachverständigen sind – über den zu entscheidenden Fall hinaus – die umfangreichen Ausführungen des Gerichts zum Befunderhebungsfehler von grundsätzlichem Interesse. Lothar Jaeger, Vorsitzender Richter am OLG Köln a. D., betont in einem Kommentar, dass der Senat auf zahlreiche Vorentscheidungen (insbesondere des Bundesgerichtshofs – BGH) zurückgegriffen und deren essentielle Inhalte in Gestalt von Textbausteinen in seine Entscheidung eingefügt hat.

Ein Befunderhebungsfehler ist gegeben, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen wird. Im Unterschied dazu liegt ein Diagnoseirrtum vor, wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs gebotenen – therapeutischen oder diagnostischen – Maßnahmen ergreift (vgl. etwa BGH, Urteile vom 21.1.2014 - VI ZR 78/13 und vom 26.1.2016 - VI ZR 146/14).

Ein Diagnoseirrtum setzt aber voraus, dass der Arzt die medizinisch notwendigen Befunde überhaupt erhoben hat, um sich eine ausreichende Basis für die Einordnung der Krankheitssymptome zu verschaffen. Hat dagegen die unrichtige diagnostische Einstufung einer Erkrankung ihren Grund bereits darin, dass der Arzt die nach dem medizinischen Standard gebotenen Untersuchungen erst gar nicht veranlasst hat – er mithin aufgrund unzureichender Untersuchungen vorschnell zu einer Diagnose gelangt, ohne diese durch die medizinisch gebotenen Befunderhebungen abzuklären – dann ist dem Arzt ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen. Denn bei einer solchen Sachlage geht es im Kern nicht um die Fehlinterpretation von Befunden, sondern um deren Nichterhebung (vgl. etwa BGH, Urteil vom 26.1.2016 - VI ZR 146/14).

Diese Rechtsprechung betont eine der zentralen Pflichten ärztlichen Handelns: Eine Diagnose darf nur auf einer hinreichenden Tatsachengrundlage gestellt werden. Erst wenn durch geeignete, gründliche Befunderhebungen eine verlässliche Basis für eine bestimmte Schlussfolgerung vorhanden ist, darf diese auch gezogen werden. Welche Befunde für eine Diagnose erhoben werden müssen, ist eine Frage des Einzelfalls. Dabei spielen die Plausibilität und die Eindeutigkeit oder Uneindeutigkeit einzelner Befunde ebenso eine Rolle wie die Häufigkeit und die Gefährlichkeit der in Betracht zu ziehenden Erkrankungen.

Der Befunderhebungsfehler des beklagten Arztes löste im vorliegenden Fall eine Beweislastumkehr für den Ursachenzusammenhang zwischen Fehler und primärem Gesundheitsschaden der Patientin aus, erklärten die Frankfurter Richter.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt bei einem einfachen Befunderhebungsfehler eine solche Beweislastumkehr in Betracht, wenn sich bei der gebotenen Abklärung der Symptome mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, dass sich dessen Verkennung als fundamental oder die Nichtreaktion auf ihn als grob fehlerhaft darstellen würde und diese Fehler generell geeignet sind, den tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen. Es ist nicht erforderlich, dass der grobe Behandlungsfehler die einzige Ursache des Schadens ist.

Eine Umkehr der Beweislast ist nur dann ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist. In einem derartigen Fall führt bereits das – nicht grob fehlerhafte – Unterlassen der gebotenen Befunderhebung wie ein grober Behandlungsfehler zu erheblichen Aufklärungsschwierigkeiten hinsichtlich des Kausalverlaufs. Es verhindert die Entdeckung des wahrscheinlich gravierenden Befundes und eine entsprechende Reaktion darauf mit der Folge, dass hierdurch das Spektrum der für die Schädigung des Patienten in Betracht kommenden Ursachen besonders verbreitert oder verschoben wird. Hingegen ist nicht Voraussetzung für die Beweislastumkehr zu Gunsten des Patienten, dass die Verkennung des Befundes und das Unterlassen der gebotenen Therapie völlig unverständlich sind (BGH, Urteile vom 7.6.2011 - VI ZR 87/10, vom 2.7.2013 - VI ZR 554/12 und vom 21.1.2014 - VI ZR 78/13).

(Versicherungsrecht 72 (2021) 14: 908-916)

Bedeutung der Dokumentation für die Arzthaftung

Zur Bedeutung der Dokumentation für die Arzthaftung äußerte sich der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 27.4.2021 (AZ: IV ZR 84/19). Die amtlichen Leitsätze des Urteils lauten:

  • In § 630c Abs. 2 Satz 1 BGB sind die vom Senat entwickelten Grundsätze zur
    therapeutischen Aufklärung bzw. Sicherungsaufklärung kodifiziert worden. Diese Grundsätze gelten inhaltlich unverändert fort; neu ist lediglich die Bezeichnung als Informationspflicht.
  • Der Umfang der Dokumentationspflicht ergibt sich aus § 630f Abs. 2 BGB. Eine Dokumentation, die aus medizinischer Sicht nicht erforderlich ist, ist auch aus Rechtsgründen nicht geboten.
  • Einer elektronischen Dokumentation, die nachträgliche Änderungen entgegen § 630f Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB nicht erkennbar macht, kommt keine positive Indizwirkung dahingehend zu, dass die dokumentierte Maßnahme von dem Behandelnden tatsächlich getroffen worden ist.
  • (Versicherungsrecht 72 (2021) 15, 968-973)

    Erweiterte Aufklärungspflicht vor Anwendung einer Neulandmethode

    Die Aufklärung vor der Anwendung einer Neulandmethode setzt einen unmissverständlichen Hinweis über mögliche unbekannte Risiken voraus, erklärte der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 18.5.2021 (AZ: VI ZR 401/19). Im zu beurteilenden Fall ging es um die Implantation einer Bandscheiben-Endoprothese, die vollständig aus Kunststoff gefertigt war und – anders als die übrigen am Markt gebräuchlichen Implantate – keinen äußeren Titanmantel aufwies.

    Hier die ersten beiden amtlichen Leitsätze des Urteils:

  • Bei der Anwendung einer (noch) nicht allgemein anerkannten medizinischen Behandlungsmethode sind zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten erhöhte Anforderungen an dessen Aufklärung zu stellen. Dem Patienten müssen nicht nur das Für und Wider dieser Methode erläutert werden, sondern er ist auch darüber aufzuklären, dass der geplante Eingriff nicht oder noch nicht medizinischer Standard ist. Eine Neulandmethode darf nur dann am Patienten angewandt werden, wenn diesem zuvor unmissverständlich verdeutlicht wurde, dass die neue Methode die Möglichkeit unbekannter Risiken birgt.
  • Gedankliche Voraussetzung der hypothetischen Einwilligung ist die Hypothese einer ordnungsgemäßen, insbesondere auch vollständigen Aufklärung. Diese Hypothese ist auch der Beurteilung der Frage zugrunde zu legen, ob der Patient einen Entscheidungskonflikt plausibel gemacht hat. Der Tatrichter hat dem Patienten vor seiner – zur Feststellung der Frage, ob dieser in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre, grundsätzlich erforderlichen – Anhörung mitzuteilen, welche Aufklärung ihm vor dem maßgeblichen Eingriff richtigerweise hätte zuteilwerden müssen.
  • (Versicherungsrecht 72 (2021) 16: 1046-1050)

    G.-M. Ostendorf, Wiesbaden

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