In Deutschland sucht etwa jeder dritte Erwachsene jährlich aufgrund von Rückenschmerzen ärztliche Hilfe, und bis zu 20 Prozent entwickeln chronische Beschwerden, die sowohl die Lebensqualität erheblich einschränken als auch die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen. Trotz zahlreicher chirurgischer, medikamentöser und rehabilitativer Maßnahmen hat sich die Prävalenz chronischer Rückenschmerzen in den letzten Jahrzehnten kaum verändert.
Ein zentrales Problem besteht darin, dass herkömmliche diagnostische Verfahren – wie statische Bildgebung oder einmalige Bewegungs- und Schmerzanalysen – das dynamische Verhalten der Wirbelsäule im Alltag nicht erfassen und dadurch häufig zu Fehldiagnosen führen. So liefern bildgebende Verfahren in akuten Fällen nur in 10 bis 15 Prozent der Fälle eine spezifische Ursache für Rückenschmerzen.
Fehlende dynamische Diagnostik führt oft zu nicht zielgerichteten Therapien, sei es chirurgisch, medikamentös oder rehabilitativ. Patienten erhalten häufig Behandlungen, welche die zugrundeliegenden funktionellen Einschränkungen nicht adressieren, während die zugrunde liegenden biomechanischen und psychosozialen Faktoren unbeachtet bleiben.
Daten der von Schmidt geleiteten Forschungsgruppe „FOR 5177 – Dynamics of the Spine“ zeigen, dass Kompensationsmechanismen in angrenzenden Wirbelsäulenbereichen und psychosoziale Faktoren wie Bewegungsangst oder Selbstwirksamkeit zentrale Treiber bzw. Schutzmechanismen chronischer Beschwerden darstellen. Die Bewegungen der Wirbelsäule sind keine rein mechanischen Abläufe: Wahrnehmung, Emotionen und Motivation spielen dabei eine entscheidende Rolle – psychosoziale Prozesse beeinflussen die Mechanik des Körpers, und umgekehrt, so Schmidt.
Die Analyse dynamischer Bewegungsmustern sei entscheidend, um Rückenschmerzen richtig zu verstehen. Nur ein holistischer bio-psycho-sozialer Ansatz, der Morphologie, Motion, Mechanics und psychosoziale Faktoren integriere, könne die Wirksamkeit therapeutischer Interventionen signifikant erhöhen.
G.-M. Ostendorf, Wiesbaden