Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch

Gewalt und Psychiatrie

Über die schicksalhafte Beziehung von Gewalt und Psychiatrie berichtete Werner Strik, Ärztlicher Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Bern (Schweiz) auf dem 11. Psychiatrie-Update-Seminar am 26. und 27. Februar 2021 (Livestream-Veranstaltung).

Das Selbstbild von Psychiatern sei nicht das von Ordnungshütern, die Frieden auch mit Gewalt durchsetzen wollen und dürfen. Und dennoch werden Psychiater immer wieder in diese Rolle gedrängt, in der sie ihren therapeutischen Ehrgeiz dem Schutz von Sachen oder Personen unterordnen müssen und damit – anders als Polizei und Justiz – vor ihrem Gewissen, vor ihren Patienten und der Öffentlichkeit in den Rechtfertigungsdruck einer „moralischen Zwickmühle“ geraten.

In einer aktuellen Studie wurden nun anhand schwedischer Register 250.419 Personen mit psychiatrischen Störungen (55,4 % weiblich, geboren zwischen 1973 und 1993) auf Gewaltereignisse als Opfer oder Täter untersucht. Die Kohorte wurde Alters- und Geschlechts-gematcht mit 2.504.190 Personen der allgemeinen Bevölkerung und mit 194.788 biologischen Geschwistern ohne psychiatrische Erkrankungen.

Folgende Definitionen wurden angewandt:

  • Gewaltopfer waren Patienten, die aufgrund einer Verletzung durch andere Personen eine medizinische Behandlung benötigten oder verstarben.
  • Als Täter galten Verurteilte aufgrund eines Gewaltverbrechens.
  • Folgende Diagnosen wurden eingeschlossen: Schizophrenie, bipolare Störung, Depression, Angst, Persönlichkeitsstörungen, Alkohol- und Drogenmissbrauch. Startzeitpunkt für Patienten und Kontrollen war die Entlassung der Patienten nach der ersten psychiatrischen Episode.

    Patienten mit psychiatrischen Störungen waren häufiger Opfer (7,1 vs. 1,0 pro 1.000 Personen-Jahre) als Kontrollpersonen, aber in gleichem Ausmaß auch Täter (7,5 vs. 0,7). Das Risiko war in korrigierten Modellen drei- bis viermal höher als bei ihren gesunden Geschwistern. Grundsätzlich waren alle Diagnosen betroffen.

    Interessant – und eher überraschend – ist, dass Schizophrenie keine erhöhte Opferrate gegenüber den Kontrollpersonen hatte, bei der Täterrate dagegen den höchsten Mittelwert hatte. Auffällig ist auch, dass bei Schizophrenie mit Abstand sowohl für Opfer als auch für Täter die höchste Varianz berechnet wurde.

    Das deutet wiederum darauf hin, dass der Umkehrschluss, Schizophrenie = gewalttätig, nicht zulässig ist, so Strik. Man würde damit vielen Patienten mit Schizophrenie Unrecht tun, da es sich offensichtlich auch unter diesem Aspekt um eine außergewöhnlich heterogene Gruppe handele.

    Die Studie zeigt seiner Auffassung nach drei wichtige Dinge:

  • Gewalt liegt zum einen gewissermaßen in der Natur der Sache, da viele psychiatrische Erkrankungen fast definitionsgemäß zwischenmenschliche Konflikte auslösen.
  • Zwang ist für die Psychiatrie berufsethisch solange vertretbar, als sie einen Patienten durch eine geeignete Behandlung vor den Folgen von Gewalt – sei dies Gegengewalt oder eine Strafe – schützt.
  • Es ist höchste Zeit, dass es der Psychiatrie gelingt, die Heterogenität der Schizophrenie zu entwirren.
  • G.-M. Ostendorf, Wiesbaden

    Literatur

    1 Sariaslan, A., Arseneault, L., Larsson, H., Lichtenstein, P., Fazel, S. (2020). Risk of subjection to violence and perpetration of violence in persons with psychiatric disorders in Sweden. Jama Psychiatry, 4, 359-367.

    Tags