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Ist das Erstellen von Aktengutachten für die Krankentagegeldversicherung strafbar?

Eine häufige Frage an den Gutachter für die private Krankentagegeldversicherung ist, ob nach den vorliegenden medizinischen Befunden inzwischen von Berufsunfähigkeit im Sinne der Vertragsbedingungen (MB/KT § 15 Absatz 1 Buchstabe b) auszugehen ist, weil das Versicherungsverhältnis (d. h. die Leistungspflicht des Versicherers) mit Eintritt der Berufsunfähigkeit endet.

Die Erstellung eines entsprechenden Aktengutachtens sei jedoch nicht zulässig, behauptet nun ein Gutachter aus einem Fachgebiet der Chirurgie, da ein solches ihm vorliegendes Gutachten „allein nach Aktenlage ohne die erforderliche Anamneseerhebung (Exploration) und ohne gutachterliche Untersuchung“ erstellt worden sei. Auf dem offiziellen Briefbogen der Gutachtenkommission des fachchirurgischen Berufsverbandes behauptet er, eine solche „Festlegung der Berufsunfähigkeit [zu einem bestimmten Datum] allein nach Aktenlage“ sei „rechtswidrig und standeswidrig“, ein „entschädigungspflichtiger Kunstfehler“ und stelle gar ein „strafrechtlich relevantes Fehlverhalten“ dar!

Diese Ausführungen offenbaren aber eine eklatante Unkenntnis in der Begutachtung für die private Krankentagegeldversicherung: So hatte der Bundesgerichtshof (BGH) in einem Grundsatzurteil vom 30. 6. 2010 (AZ: IV ZR 163/09, OLG Düsseldorf) ausgeführt, dass für die sachverständige Beurteilung der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit die „medizinischen Befunde“ (d. h. alle ärztlichen Berichte und sonstigen Untersuchungsergebnisse) heranzuziehen und auszuwerten sind, welche der Versicherer für den maßgeblichen Zeitpunkt vorlegen kann. Dabei ist es gleich – so der BGH – wann und zu welchem Zweck die medizinischen Befunde erhoben wurden. Auch müssen diese keine (ausdrückliche oder wenigstens stillschweigende) ärztliche Feststellung der Berufsunfähigkeit enthalten. Weiter argumentieren die Karlsruher Richter, dass das Merkmal „nach medizinischem Befund“ den Maßstab vorgibt, nach welchem eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit beurteilt werden soll: Objektiv durch Einholung eines neutralen Sachverständigengutachtens unter Einbeziehung aller verfügbaren medizinischen Unterlagen.

Gefordert ist somit eine reine Aktenbegutachtung ohne aktuelle Anamneseerhebung und Untersuchung des Versicherten. Dazu heißt es in dem Standardwerk von J. Fritze und F. Mehrhoff: „Die ärztliche Begutachtung“ (8. Auflage 2012): „Aktengutachten, also Gutachten ohne persönliche Untersuchung, stützen sich in ihrer Beurteilung allein auf die in den Akten enthaltenen Angaben und medizinische Daten“.

Mit welcher eigenen Fachkompetenz der fachchirurgische Gutachter, der betont, dass „gebietsfremde Gutachten […] prinzipiell abzulehnen“ seien, seine „Qualitätsprüfung“ eines „allgemeinmedizinischen-betriebsmedizinischen Fachgutachtens“ durch den „Versicherungsgutachter“ vornimmt, belegen folgende Zitate:

  • „Ohne die Covid-Erkrankung wäre heute nach Ausheilen der Bandscheibenerkrankung Arbeitsfähigkeit […] zu testieren.“
  • „Zurzeit“ sei „der Proband auf Grund von Long-Covid-Folgen [über die zur Zeit der Gutachtenerstellung keine Befunde vorlagen] krank, arbeits- und dienstunfähig, die Dauer“ sei „noch nicht absehbar“.
  • Entlarvend dann folgendes Eingeständnis:

  • „Die Long-Covid-Folgen fallen nicht in meine [fach]chirurgische Fachkompetenz und sind noch nicht detailliert erforscht und publiziert.“
  • Ein Kommentar dazu erübrigt sich wohl.

    Der Gutachtenkommission des betreffenden Berufsverbandes, in deren Namen angeblich dieses „Gutachten“ erstellt worden war und die daraufhin von dem „angegriffenen [!] Versicherungsgutachter“ eingeschaltet wurde, ist diese Angelegenheit allerdings ausgesprochen unangenehm. Der Sprecher der Gutachtenkommission entschuldigte sich – nach Rücksprache mit dem Präsidenten und dem Geschäftsführer des Berufsverbandes – für die persönlichen Anwürfe und erklärte, dass der Berufsverband sich ausdrücklich von diesem Gutachten distanziert. Die Beurteilung von Long-COVID-Folgen sei nicht Bestandteil der fachchirurgischen Begutachtung.

    Um Missverstände gar nicht erst aufkommen zu lassen: Dieser Beitrag wurde nicht geschrieben, um einen sicherlich einstmals hochverdienten Fachgutachter an den Pranger zu stellen; daher wurde auf Nennung des Namens und auch der Fachrichtung bewusst verzichtet. Dagegen soll er vornehmlich folgenden zwei Zielen dienen:

  • Hinweis auf mögliche gravierende Fehlleistungen auch bei renommierten Gutachtern, wenn sie außerhalb ihres Fach- bzw. auch Rechtsgebietes tätig werden.
  • Schutz von Versicherungsmedizinern und Gutachtern bei der privaten Krankenversicherung vor ähnlichen Angriffen und Argumente für die Erwiderung.
  • Abschließend bleibt noch anzumerken: Es ist traurig, zuzusehen, wenn ein jahrzehntelang hoch angesehener Facharzt und Gutachter (im höheren Alter) ausgesprochen fragwürdige Gutachten verfasst und andere gutachtlich tätige Kollegen persönlich heftig attackiert. Ein solcher Gutachter schadet nicht nur sich selbst, sondern auch der entsprechenden Fachgesellschaft bzw. dem Berufsverband und schlussendlich dem medizinischen Gutachtenwesen insgesamt.

    G.-M. Ostendorf, Wiesbaden