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Die COVID-19-Pandemie aus versicherungsmedizinischer, sozialmedizinischer und gutachtlicher Sicht

Die COVID-19-Pandemie war Thema des 14. Kongresses für Versicherungsmedizin, Sozialmedizin und medizinische Begutachtung am 1. Juni 2022 in Frankfurt/Main, veranstaltet vom IVM – Privates Institut für Versicherungsmedizin in Frankfurt. „Die Pandemie kam über uns, und wir haben uns nicht richtig darauf vorbereitet“, erklärte einleitend der wissenschaftliche Tagungsleiter Klaus-Dieter Thomann, Leiter des IVM.

Dass uns zudem das Thema „Long-COVID“ auf absehbare Zeit nicht verlassen wird, prophezeite Claus F. Vogelmeier, Direktor der Universitätsklinik für Innere Medizin, Schwerpunkt Pneumologie, in Marburg.

Politische (Fehl-)Entscheidungen während der Pandemie und deren Auswirkungen

Kritik an den während der Pandemie von der Politik veranlassten einschneidenden Maßnahmen übten mehrere Referenten. So zeigte Werner Plumpe vom Historischen Seminar der Universität Frankfurt im Rahmen einer historischen Betrachtung auf, dass Seuchen und Pandemien Begleiter der Menschheit sind. Die Art der öffentlichen und politischen Reaktion auf die COVID-19-Pandemie war dagegen neu und ihrer Dimension ohne historisches Beispiel.

Es kam zu gravierenden Eingriffen in das wirtschaftliche und soziale Alltagsleben mit dem Ziel, die Verbreitung des Virus zu stoppen bzw. zu bremsen, was darauf hinauslief, dass deren Folgen mittlerweile selbst zu einem veritablen Krisenfaktor geworden sind – ohne dass aber das Infektionsgeschehen dadurch erkennbar wesentlich beeinflusst wurde. „Eine nüchterne Bewertung der Corona-Politik steht noch aus“, so Plumpe.

Entsprechend erklärte Volkhard a. J. Kempf, Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Krankenhaushygiene, Universitätsklinikum Frankfurt, in der Pandemie seien viele ungesicherte Maßnahmen erfolgt.

Harald Dreßing, Leiter des Bereichs Forensische Psychiatrie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, berichtete, dass Quarantäne und Isolationsbedingungen Risikofaktoren für psychische Krankheiten sind. Zudem ist bei vorbestehenden psychischen Erkrankungen das Risiko für eine Verschlechterung des Krankheitsverlaufs erhöht.

Überlastung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes

Dass es für viele der Maßnahmen bis heute keine wissenschaftliche Evidenz gibt, kritisierte auch René Gottschalk, bis Juni 2021 Leiter des Gesundheitsamtes Frankfurt. Auch seien die zuständigen Behörden des Öffentlichen Gesundheitsdienstes über ihre Grenzen belastet worden, mit teilweise desaströsen Folgen.

Gottschalk bemängelte, dass die Fachärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes von den entscheidenden politischen Institutionen nur ausnahmsweise angehört worden seien. Es bleibe unerklärlich, warum ungesicherte Empfehlungen bis heute und bis in höchste politische Ebenen als Entscheidungsgrundlage für einzuleitende Maßnahmen gelten.

Unstrittig sei COVID-19 für bestimmte Patienten- und Bevölkerungsgruppen eine gefährliche Infektionskrankheit. Durch den intensiven Schutz dieser Menschen vor einer Ansteckung hätten viele schweren Krankheits- und sogar Todesfälle – namentlich bei älteren Menschen – verhindert werden können.

Besonders betroffen: Beschäftigte im Gesundheitswesen

Besonders von COVID-19 betroffen waren Beschäftigte im Gesundheitswesen: Insbesondere Pflegekräfte, aber auch Erzieherinnen und Erzieher haben sich häufig infiziert, berichtete Albert Nienhaus vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Da es sich bei den meisten entsprechend anerkannten Berufskrankheiten nach BK-Nr. 3101 (Infektionskrankheiten) um typische Frauenberufe handelt, könnte fast sagen, beruflich bedingtes COVID-19 sei weiblich. Ein großer Teil der Betroffenen leidet unter langwierigen Folgen und etwa fünf Prozent sind aufgrund von COVID-19 längerfristig arbeitsunfähig, wobei der Bedarf an Rehabilitationsmaßnahmen wahrscheinlich noch deutlich höher ist.

Da bisher noch wenig bekannt ist über den Verlauf von Post-COVID, bestand bisher nur in Ausnahmefällen die Notwendigkeit zur Abschätzung der MdE. Darüber hinaus gibt es noch wenig Erfahrung mit der Einschätzung der MdE z. B. bei Fatigue (schwerer chronischer Erschöpfung) oder Gedächtnis-/Konzentrationsstörungen als typische Beschwerden bei Post-Covid. Bei der Begutachtung von Fatigue ist eine Konsistenzprüfung der geklagten Beschwerden erforderlich, so Nienhaus.

Begutachtung von Long-/Post-COVID

Dass die Begutachtung unspezifischer Folgen von COVID-19 derzeit eine der größten Herausforderung in der gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) darstellt, erklärte Michael Woltjen, Leiter der Stabsstelle „Grundlagen SV-Recht und Sozialwahlen“ bei der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW).

Die Quantifizierung der Stärke bzw. des Ausmaßes der Funktionseinschränkungen bei chronischen Beschwerden nach COVID-19 ist allerdings nicht einfach, erklärte Julia Thiemer, Oberärztin an der Rehabilitationsklinik Sonnenblick in Marburg. Long-/Post-COVID stellt nicht nur eine sozialmedizinische, sondern auch eine diagnostische Herausforderung dar. So ist die Schwere der Akutinfektion nicht mit der Schwere bzw. der Beeinträchtigung durch die Long-/Post-COVID-Symptomatik assoziiert. Auch gibt es keine objektiven Kriterien zur Ermittlung der Funktionseinschränkungen, insbesondere der Fatigue-Symptomatik.

In der Begutachtung dieser Patienten ist eine ausführliche Anamneseerhebung erforderlich (und aussagekräftig), wobei sich der Gutachter die Symptome sowie deren Häufigkeit konkret beschreiben lassen soll. Besonders wichtig sind Angaben zu Beeinträchtigung des Alltags und des Berufslebens durch die Beschwerden. „Hören Sie dem Probanden zu!“ forderte Thiemer.

Eine apparative Diagnostik sollte dagegen – falls erforderlich – symptomorientiert erfolgen. So finden sich etwa im Kardio-MRT auch bei kardiologisch beschwerdefreien Patienten oft auffällige Befunde. Ein Kardio-MRT sollte daher nur bei pathologischen Befunden in der Echokardiographie bei entsprechender klinischer Symptomatik durchgeführt werden, zumal eine Überdiagnostik auch die Betroffenen verunsichere.

Folgende grundlegenden Aspekte sollte der Gutachter bei der Begutachtung von Personen nach COVID-19 beachten:

  • Liegt tatsächlich eine Long-/Post-COVID-Symptomatik vor?
  • Ggf. Ausschlussdiagnostik betreiben!
  • Welches Anliegen hat der Versicherte?
  • Welche Befunde liegen bereits vor?
  • Nebendiagnosen, Befunde und den Gewichtsverlauf (in der Lockdown-Phase) eruieren.
  • Dass der Gutachter sich bei der Begutachtung von Long-/Post-Covid-Beschwerden wie Fatigue an Leitlinien der AWMF orientieren kann und auch sollte, etwa an der „Leitlinie Ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen (Leitlinie Schmerzbegutachtung)“ oder der „Leitlinie Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen“, erklärte abschließend Thomann in Übereinstimmung mit den Referenten und den Teilnehmern der Veranstaltung.

    Hinweis:

    Drei weitere Beiträge über diesen Kongress zu den Themen

  • Long-/Post-COVID als große Herausforderung für die gesetzliche Unfallversicherung (GUV)
  • Rehabilitation bei Long-COVID – Vorsicht vor Überforderung!
  • Neuropsychiatrische Begutachtung von Post-COVID
  • wurden bereits zeitnah im 4. Newsletter vom 13.7.2022 eingestellt.


    G.-M. Ostendorf, Wiesbaden