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„Darmökogramme“ ohne Stellenwert in der Gastroenterologie

Der methodische Fortschritt der Molekularbiologie und Bioinformatik seit Ende des 20. Jahrhunderts ermöglicht heutzutage die genetisch basierte Erforschung des gesamten Mikrobioms des Magen-Darm-Traktes, berichtete Viola Andresen von der Medizinischen Klinik am Israelitischen Krankenhaus Hamburg auf dem 14. Allgemeinmedizin-Update-Seminar am 4. und 5. September 2020 in Mainz. Der Fokus liegt dabei auf der Zusammensetzung des Mikrobioms sowie auf den wechselseitigen Beziehungen zwischen dem Menschen und seinem Mikrobiom und deren Rolle bei der Entstehung von Krankheiten.

Mikrobiom-Forschung: Ein faszinierendes aktuelles „Hot Topic“

Die Mikrobiom-Zusammensetzung unterscheidet sich einerseits innerhalb der unterschiedlichen Abschnitte des Gastrointestinaltraktes, andererseits auch zwischen Lumen und Mukosa. Die Größe der Artenvielfalt scheint für eine gesunde Mikrobiom-Funktion wichtiger zu sein als die quantitative Menge bestimmter Arten. Es sind noch längst nicht alle Bakterienarten des Mikrobioms identifiziert, so dass immer noch eine recht große „Black Box“ zu existieren scheint. Innerhalb der bekannten Bakterien hat zwar jeder Mensch sein ganz individuelles Mikrobiom, aber es scheint zwischen den meisten Menschen durchaus Grundgemeinsamkeiten mancher Bakterienstämme und vor allem aber auch der Mikrobiom-Gene und -Funktionen zu geben.

Zudem wird die Rolle der Pilze und der Viren zunehmend erkannt:

  • Aufgrund ihrer großen Biomasse machen Pilze trotz ihrer geringen Zahl einen überproportional großen Anteil des Mikrobioms aus. Sie stehen mit den Bakterien in enger Assoziation und übernehmen wichtige physiologische Funktionen. Keinesfalls gehören sie mit einer (ohnehin nicht wirksamen) „Pilz-Diät“ ausgerottet.
  • Die Bakteriophagen sind ein wichtiger Einflussfaktor für das residente bakterielle Mikrobiom, aber auch für die Abwehr pathogener Keime.
  • Als „Dysbiose“ werden ein gestörtes Gleichgewicht innerhalb des Mikrobioms oder bestimmte Veränderungen der residenten Mikrobiota-Stämme (z.B. als das Fehlen oder die Dominanz einzelner Stämme) im Vergleich zu der Zusammensetzung bei Gesunden bezeichnet. Neben den naheliegenden gastrointestinalen Erkrankungen stehen insbesondere metabolische Erkrankungen (metabolisches Syndrom, Diabetes mellitus, Adipositas), immunologische Erkrankungen (z.B. Allergien, atopische Dermatitis, Asthma bronchiale) oder neurologische Erkrankungen (Demenz, Alzheimer, Morbus Parkinson, Depressionen, Angststörungen, Schizophrenie, Autismus) im Fokus der Forschung.

    Allerdings zeigen die Forschungsergebnisse, insbesondere in den humanen Studien, im Wesentlichen Assoziationen an, so dass Schlussfolgerungen bezüglich Ursache oder Folge von Mikrobiom-Veränderungen oft nicht eindeutig möglich sind.

    „Darm-Ökogramme“ sind kritisch zu sehen

    Problematisch ist, dass seit vielen Jahren von einer wachsenden Zahl von Anbietern Stuhluntersuchungen, sogenannte „Darm-Ökogramme“, zur Analyse der residenten gastrointestinalen Mikrobiota und zur Detektion einer möglichen Dysbiose angeboten werden. (Anmerkung: Dieses Thema ist gerade bei Begutachtungen naturheilkundlicher Behandlungen für die private Krankenversicherung immer wieder relevant.)

    Der Stellenwert dieser meist recht teuren Untersuchungen ist jedoch aus einer Reihe von Gründen inhaltlicher und methodischer Art recht fragwürdig, erklärte Andresen:

    Aus inhaltlichen Gründen

  • Das Mikrobiom ist interindividuell sehr unterschiedlich, und es gibt daher auch keinen allgemeingültigen Normalbefund.
  • Die von vielen Herstellern für bestimmte Bakterienstämme angegebenen „Normalbereiche“ und entsprechende individuelle „pathologische Deviationen“ sind nicht wirklich evidenzbasiert.
  • Bislang eignet sich keine der vielen beschriebenen quantitativen Veränderungen als spezifischer Biomarker für eine Erkrankung.
  • Viele Arten des Mikrobioms sind bislang noch unbekannt und werden gar nicht erfasst.
  • Eine reduzierte Mikrobiom-Diversität kann offenbar mit vielen Krankheiten assoziiert sein, aber es bleibt ein unspezifischer Befund, der auch nicht automatisch einen krankhaften Zustand bedeutet.
  • Die Ergebnisse dieser Stuhluntersuchungen lassen somit keinerlei klinische Interpretationen oder gar gezielte therapeutische Empfehlungen zu.
  • Aus methodischen Gründen

  • Die fäkale Mikrobiota repräsentiert nur einen Bereich des Mikrobioms. Die mukosal assoziierte Mikrobiota wird durch Stuhluntersuchungen gar nicht erfasst.
  • Das Mikrobiom ist vielfältigen Einflüssen ausgesetzt, und jede Untersuchung ist nur eine Momentaufnahme, die z.B. auch allein durch die Ernährung der letzten Tage verändert sein kann.
  • Manche Untersuchungsmethoden basieren noch auf kulturellen Anzüchtungen, bei der das entscheidende Spektrum der Anaerobier nicht erfasst werden kann.
  • Zunehmend bieten die Labore zwar auch alleinige oder ergänzende molekularbiologische Untersuchungen an. Da werden jedoch in der Regel in den Befunden quantitative Werte von vordefinierten wichtigen Stämmen angegeben, die schwer zu interpretieren sind.
  • Die molekularbiologischen Untersuchungen basieren in der Regel auf Abgleichungen mit Gendatenbanken. Es können somit nur Mikrobiom-Komponenten bestimmt werden, die bereits in den Datenbanken enthalten sind. Viele Arten sind dort jedoch noch gar nicht erfasst.
  • Zusammenfassend ist somit festzustellen, dass „Darmökogramme“ für die klinische Diagnostik gastrointestinaler Erkrankungen aktuell keinen Stellenwert haben. Gezielte probiotische Empfehlungen sind zudem fragwürdig, da völlig unklar ist, ob ein bestimmter Stamm für den betreffenden Patienten tatsächlich „pathologisch vermindert“ oder „vermehrt“ oder gar für irgendwelche Beschwerden verantwortlich ist und ob ein Probiotikum überhaupt in der Lage wäre, sich im bestehenden mikrobiellen Ökosystem anzusiedeln und diesen Zustand zu ändern. Bezüglich der Ernährung gilt letztlich ganz allgemein: Eine vielfältige, ballaststoffreiche Ernährung fördert ein vielfältiges Mikrobiom. Für diese Erkenntnis benötigt man keine teure Stuhluntersuchung, betonte Andresen zusammenfassend.

    G.-M. Ostendorf, Wiesbaden