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Begutachtung von Alternativmedizin

Vortrag auf einem Seminar des IVM, Frankfurt, 4. März 2020

Naturheilkundliche, v. a. aber auch alternativ- oder komplementärmedizinische Methoden und Konzepte erfreuen sich seit Jahren großer Beliebtheit – nicht nur bei Patienten, sondern auch bei vielen Ärzten und natürlich bei Heilpraktikern. Kenntnisse darüber sind daher wichtig, besonders in der privaten Krankenversicherung, wo es in der Regel um die Frage geht, wie die einzelnen Methoden zu beurteilen sind und ob sie unter die Kostenerstattungspflicht fallen. Hier sind außerdem sowohl die einschlägige Rechtsprechung zu beachten als auch die Vorschriften für die Abrechnung nach der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ).

Aber auch in anderen Versicherungssparten spielt Alternativmedizin durchaus eine Rolle, so in der Berufsunfähigkeitsversicherung (etwa bei der Frage, ob bei bestimmten, nach alternativmedizinischen Konzepten gestellten Diagnosen wie der „Multiple Chemical Sensitivity“ oder der „chronischen Borreliose“ von Berufsunfähigkeit auszugehen ist), der Arzthaftpflichtversicherung (bei der Beurteilung schwerer Komplikationen nach der Anwendung alternativmedizinischer Methoden wie einer extensiven „Störfeld-Sanierung“ im Zahnbereich oder auch einer Akupunkturbehandlung) und auch der privaten Unfallversicherung (bei der „chronischen Borreliose“ als angebliche Unfallfolge).

Daher widmete das IVM – Institut für Versicherungsmedizin, Frankfurt, dem Thema „Alternativmedizin: Begutachtung und Bewertung von Therapiemethoden und Konzepten in der komplementären Medizin“ ein Tagesseminar am 4. März 2020 in Frankfurt/Main.

Was ist nun aber unter den verschiedenen Begriffen zu verstehen? Hier ist die definitorische Unschärfe des Fachgebietes zu beachten, wie Andreas ­Michalsen, Chefarzt der Abteilung Naturheilkunde im Immanuel Krankenhaus Berlin, auf dem 13. Allgemeinmedizin-Update im April/Mai 2019 ausführte. So hat sich im angloamerikanischen Raum in den letzten Jahrzehnten der von der amerikanischen Gesundheitsbehörde NIH verwendete Begriff „Complementary and Alternative Medicine“ (CAM), zuletzt abgeändert zu „Complementary and Integrative Medi­cine“ (CIM), durchgesetzt.

In Deutschland ist der Begriff Komplementärmedizin inzwischen akademisch zwar ebenfalls etabliert, in der deutschsprachigen Tradition und in der Bevölkerung und bei Patienten sind jedoch die Begriffe Naturheilkunde und Naturheilverfahren weit mehr präsent, erklärte Michalsen. Dabei bilden die sog. „klassischen Naturheilverfahren“ die Basis des Fachgebietes Naturheilverfahren bzw. der „Naturheilkunde“ und umfassen vor allem Bereiche, welche die nicht-pharmakologischen und lebensstilbezogenen Therapieoptionen fokussieren. In der deutschen Naturheilkunde stehen die „fünf Säulen“, die auch auf das Lehrgebäude von Sebastian Kneipp (1821–1897) zurückgehen, im Mittelpunkt.

Entsprechend heißt es in der aktuellen Muster-Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer von 2018: „Die Zusatz-Weiterbildung Naturheilverfahren umfasst in Ergänzung zu einer Facharztkompetenz die Anregung der individuellen körpereigenen Ordnungs- und Heilkräfte durch Anwendung nebenwirkungsarmer oder nebenwirkungsfreier natürlicher Mittel“.

Als „alternative“ Therapien werden dagegen nicht wissenschaftlich fundierte Verfahren bezeichnet, deren Wirksamkeit nicht belegt ist und die als Methoden keine Plausibilität aufweisen, beispielsweise Bioresonanz, so Michalsen.

Praktikabel für die Begutachtung ist somit folgende Definition von Alternativmedizin: Es handelt sich um Methoden außerhalb der sog. Schulmedizin auf der Grundlage spekulativer Konzepte ohne nachgewiesene diagnostische Aussagekraft bzw. therapeutische Wirksamkeit.

Bei der Begutachtung alternativ- bzw. auch umstrittener komplementärmedizinischer Behandlungen für die private Krankenversicherung ist § 4 Abs. 6 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) zu berücksichtigen: Danach leistet der Versicherer (über die Schulmedizin hinaus) auch für Methoden und Arzneimittel, die sich in der Praxis als ebenso erfolgversprechend bewährt haben oder die angewandt werden, weil keine schulmedizinischen Methoden oder Arzneimittel zur Verfügung stehen. Er kann jedoch seine Leistungen auf den Betrag herabsetzen, der bei der Anwendung vorhandener schulmedizinischer Methoden und Arzneimittel angefallen wäre.

Eine Argumentation auf der Grundlage von AVB § 4 Abs. 6 erweist sich jedoch oft als problematisch:

  • Methoden und Arzneimittel, die sich in der Praxis nachgewiesenermaßen als ebenso erfolgversprechend bewährt haben wie Schulmedizin, gehören zur Schulmedizin bzw. werden in diese integriert.
  • Fälle, in denen überhaupt keine schulmedizinischen Methoden oder Arzneimittel zumindest zur Beschwerdelinderung (Palliativtherapie) zur Verfügung stehen, gibt es nicht.
  • Was macht der Versicherer, der alternativmedizinische Behandlungen zu dem Betrag erstattet hat, der bei der Anwendung vorhandener schulmedizinischer Methoden und Arzneimittel angefallen wäre, wenn anschließend eine solche schulmedizinische Behandlung doch noch beantragt wird?
  • Für die privatärztliche Abrechnung alternativmedizinischer Behandlungen nach der GOÄ ist zu beachten, dass die entsprechenden Methoden fast durchweg nicht in der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) enthalten sind, mit wenigen Ausnahmen: Homöopathische Anamnese (GOÄ-Nrn. 30 und 31), Akupunktur zur Schmerztherapie (GOÄ-Nrn. 269 und 269a) und Eigenbluttherapie (GOÄ-Nr. 284). Dennoch müssen auch alternativmedizinische Behandlungen grundsätzlich nach der GOÄ abgerechnet werden, in der Regel im Rahmen einer Analogabrechnung gem. GOÄ § 6 Abs. 2 und § 12 Abs. 4.

    Für die Begutachtung ist die einschlägige Rechtsprechung gerade der letzten 20 Jahre von Bedeutung; hier zwei Beispiele:

  • Das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe erklärte mit Urteil vom 31. 8. 2000 (AZ: 19 U 243/99), dass auch im Bereich der alternativen Medizin die Frage der medizinischen Notwendigkeit einer Maßnahme durch einen dieser Fachrichtung unvoreingenommen gegenüberstehenden Sachverständigen zu beurteilen ist.
  • Das Oberlandesgericht (OLG) Köln führte mit Urteil vom 14.1.2004 (AZ: 5 U 211/01) aus, dass medizinische Notwendigkeit keineswegs nur bei Methoden der so genannten Schulmedizin zu bejahen ist. Allerdings muss es sich dabei grundsätzlich um Verfahren handeln, die den Nachweis klinischer Wirksamkeit erbringen können, so die Kölner Richter.
  • G.-M. Ostendorf, Wiesbaden