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Begutachtung in der privaten Krankentagegeld- und ­Berufsunfähigkeitsversicherung

Begutachtung und Leistungsgewährung in der privaten Krankentagegeld- und Berufsunfähigkeitsversicherung (KT- und BU-Versicherung) waren die Themen eines Seminars am 22. März 2023 in Frankfurt/Main, veranstaltet vom IVM – Privates Institut für Versicherungsmedizin in Frankfurt, geleitet von Klaus-Dieter Thomann, Leiter des IVM.

Juristische und berufs­kundliche Aspekte

­Einen Überblick über die Versicherungsbedingungen und die aktuelle Rechtsprechung in der Berufsunfähigkeitsversicherung gab der Rechtsanwalt Oliver Tammer vom Anwaltsunternehmen BLD, Frankfurt.

So kann der Versicherer folgende Erklärungen bei Abschluss der Leistungsprüfung abgeben:

  • Ablehnung (evtl. auch wegen Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht)
  • Unbefristete Anerkenntnis
  • Befristete Anerkenntnis
  • Anerkenntnis unter gleichzeitiger Leistungseinstellung im Nachprüfungsverfahren (uno-actu)
  • Sonderfall: Einstellung der Leistungsprüfung wegen unzureichender Mitwirkung des Versicherungsnehmers
  • Eine befristete Anerkenntnis darf gem. § 173 Abs. 2 Versicherungsvertragsgesetz nur einmal erfolgen. Nach aktueller Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) aus den Jahren 2019 und 2022 kommt eine solche Befristung zudem nur noch in Betracht bei Vorliegen eines sachlichen Grundes, der bei Abgabe der befristeten Anerkenntnis
    zeitlich in der Zukunft liegt, wobei die Befristung gegenüber dem Versicherungsnehmer auch entsprechend zu begründen ist.

    Weiter ging Tammer auch auf die Anforderungen an die Begutachtung ein. Er zitierte dabei ein Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Dresden vom 5.11.2019 (AZ: 4 U 390/18), wonach ein psychiatrisches Gutachten zur Feststellung der Berufsunfähigkeit den Anforderungen nicht genügt, wenn es lediglich auf ärztliche Zeugnisse Bezug nimmt, die allein die Angaben des Versicherungsnehmers referieren. Dem Gutachten muss sich in jedem Fall die eingehende Exploration des Patienten und eine kritische Überprüfung der Beschwerdeschilderung entnehmen lassen.

    Der Rechtsanwalt und Mediator Stefan Wachholz, Leiter Recht & Außendienst beim IHR Rehabilitationsdienst in Köln, betonte die Wichtigkeit des konkreten Berufsbildes in der Begutachtung für die KT- und BU-Versicherung: „Ganz viele Gutachten scheitern daran, dass sich der Gutachter nicht mit dem Berufsbild auseinandergesetzt hat!“ Die Darlegung der allgemeinen Berufsbeschreibung ist nicht ausreichen.

    Wesentliche Aufgabe des medizinischen Sachverständigen ist dann die Bestimmung des positiven und des negativen Leistungsvermögens entsprechend der erhobenen Befunde. Sinnvoll sind hier eine konkrete Darstellung und Bewertung (nach Art eines Stundenplans), welche beruflichen Teiltätigkeiten noch in welchem Umfang möglich / nicht möglich / nur noch teilweise möglich sind.

    Daneben kann es allerdings auch Fälle geben, in denen Berufsunfähigkeit bereits dann angenommen werden muss, denn der Versicherungsnehmer prägende Teile seiner beruflichen Tätigkeit krankheitsbedingt nicht mehr ausüben kann. Als Beispiel nannte Wachholz Berufsunfähigkeit eines Notarztes (wenn die körperlichen Anforderungen beim konkreten Einsatz im Voraus nicht feststehen), wenn nennenswerte körperliche Belastungen nicht möglich sind, wie etwa die Behandlung liegender Verletzter in knieender Stellung (OLG Saarbrücken, VersRecht 2012).

    Leistungsbeurteilung und Vermeidung von Fehlern in der Begutachtung

    Die Begutachtung (nicht nur) in der KT- und BU-Versicherung besteht aus zwei Teilen, erklärte Thomann:

  • Medizinischer Teil: Befunde – Fakten – Diagnosen
  • Versicherungsrechtlicher Teil: Medizinische, gesellschaftliche und juristische Bewertungen
  • Während bei der Einhaltung medizinisch-wissenschaftlicher Kriterien verschiedene Gutachter beim medizinischen Teil zu den gleichen Ergebnissen kommen, gelangen diese beim versicherungsrechtlichen Teil, zu dem etwa die Quantifizierung von Funktionseinschränkungen gehört, häufig zu stark unterschiedlichen Ergebnissen, so Thomann.

    Als Kriterien für die Qualität eines Gutachtens nannte er:

  • Exakte Dokumentation der Befunde und der sich daraus ergebenden Leistungseinschränkungen
  • Logische und widerspruchsfreie Argumentation
  • Verständlichkeit des Gutachtens (auch für medizinische Laien)
  • Bereitschaft zur Kommunikation bei Rückfragen des Auftragsgebers
  • Wichtig sei auch Transparenz des Ablaufs der Begutachtung gegenüber dem zu Begutachtenden: „Es wird nichts hinter Ihrem Rücken gemacht.“

    Der Versicherungsmediziner Gerd-Marko Ostendorf wies auf typische Fehler in der Begutachtung für die KT- und BU-Versicherung hin, wenn etwa folgende Vorgaben der Leitlinie Allgemeine Grundlagen der medizinischen Begutachtung (AWMF-Registernummer: 094/001) nicht beachtet werden:

  • Eine sachgerechte Erstellung eines Gutachtens ist nur möglich, wenn der Gutachter über eingehende Kenntnisse in dem betroffenen Fachgebiet verfügt und jede Expertise mit der erforderlichen Sorgfalt anfertigt.
  • Der Gutachter ist grundsätzlich an Beweisfragen und Weisungen gebunden, insbesondere bei Gerichtsgutachten.
  • So bestimmt das Gericht bzw. der Auftraggeber (hier der Versicherer) insbesondere bei streitigem Sachverhalt, welche Tatsachen der Sachverständige der Begutachtung zugrunde legen muss.
  • Es ist für den Versicherer ausgesprochen schwierig, wenn parallel tätige fachärztliche Gutachter fachfremde, dabei einander widersprechende Beurteilungen abgeben. So erklärten etwa in einem Krankentagegeld-Fall sowohl der orthopädische als auch der internistische Gutachter, dass aus Sicht ihres Fachgebietes jeweils zu 100 % Arbeitsfähigkeit ab dem Untersuchungstag vorliege. Dennoch gingen beide Gutachter weiterhin von völliger Arbeitsun­fähigkeit aus: Der orthopädische Gutachter wegen der internistischen Erkrankung, der internistische Gutachter wegen massiver orthopädischer Beschwerden und Funktionseinschränkungen!

    Problematisch kann weiter die (ergänzende) Erhebung der Arbeitsanamnese durch den medizinischen Sachverständigen sein: Das wird von den Versicherern zwar im Rahmen der Leistungsprüfung regelmäßig gewünscht, ist vor Gericht jedoch nicht zulässig (vgl. hierzu Heft 2/2022, S. 54).

    Medizinisch-fachärztliche ­Begutachtung aus algesiolo­gischer, psychiatrischer und onkologischer Sicht

    Die Auswirkungen von chronischen Schmerzen, insbesondere bei orthopädischen und rheumatologischen Leiden, auf die berufliche Leistungsfähigkeit beschrieb Hans-Raimund Casser, Ärztlicher Direktor des DRK Schmerz-Zentrums Mainz.

    Die Chronifizierung von Schmerz ist kein Problem der Zeit, sondern der Zunahme von beteiligten somatischen und psychosozialen Faktoren und der Ausbreitung der Beschwerden selbst. Dafür sind bei der Mehrzahl der Patienten weder simple somatische noch psychische Pathologien verantwortlich. Chronischer Schmerz ist ein biopsychosozialer Prozess, dessen Merkmale mit dafür entwickelten Verfahren erfasst werden können.

    Als Indikationen für eine Schmerzbegutachtung nannte Casser:

  • Hauptklage chronischer Schmerz
  • Diskrepanzen zwischen dem subjektiven Schmerzerleben und der objektivierbaren Gewebeschädigung
  • Neben dem Hauptschmerz Klagen über vielfältige weitere Schmerzen oder Körperbeschwerden
  • Vorliegen eines außergewöhnlichen Schmerzsyndroms, z. B. CRPS, Phantomschmerz oder Deafferenzierungs-Schmerz bei Querschnittslähmung
  • Wesentliche Bedeutung psychosozialer Störungen für die Chronifizierung
  • Schmerz durch wesentliche psychische Störungen (mit-)bedingt, z. B. posttraumatische Belastungsstörung, Depression, Angst oder somatoforme und dissoziative Störungen
  • Über die Begutachtung von Personen mit psychischen Erkrankungen berichtete Harald Dreßing, Leiter des Bereichs Forensische Psychiatrie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.

    Er betonte, dass im Zentrum der psychiatrischen Begutachtung die ausführliche (mindestens etwa 2 bis 4 Stunden, ggf. länger dauernde) Exploration und die darauf basierende Befunderhebung stehen. Das sei das Kernelement eines guten psychiatrischen Gutachtens, nicht aber die Anzahl psychometrischer Tests (einschl. Beschwerdenvalidierungstests) oder sonstiger Zusatzuntersuchungen.

    (Ausführliche Angaben dazu finden sich im Beitrag von H. Dreßing und K. Foerster: „Psychiatrische Begutachtung im Rahmen der privaten Berufsunfähigkeits(zusatz)versicherung“ in Heft 5/2022, S. 219-226.)

    Die Begutachtung onkologischer Patienten thematisierte Ulf Seifart, Chefarzt der Klinik Sonnenblick Marburg/Lahn. Die Thematik gewinnt immer mehr an Bedeutung, da – gerade unter der modernen immun-onkologischen Therapie – onkologische Patienten eine deutlich bessere Prognose haben, worauf sich die sozialmedizinische Begutachtung einstellen muss.

    Besonders zu beachten sind unter immun-onkologischer Therapie allerdings Autoimmunerkrankungen, sogenannte „immune-related Adverse Events“ (irAE), etwa die bei 40 % bis 50 % der Patienten eintretende Hypothyreose.
    IrAEs können zu jedem Zeitpunkt während oder auch nach Beendigung der Tumor­immuntherapie auftreten.

    In der Leistungsbeurteilung bei onkologischen Patienten gilt das Prinzip „Funktionseinschränkungen vor Prognose“, so Seifart. Besondere Bedeutung haben dabei die Tumor-assoziierte Fatigue und die Chemotherapie-bedingte Polyneuropathie.

    (Ausführliche Angaben zu Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit von Krebspatienten durch Fatigue und Polyneuropathie wurden bereits im Newsletter vom 19. April 2023 eingestellt:

    /node/203546 )

    G.-M. Ostendorf, Wiesbaden