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Wissenschaftliche Fachgesellschaften kritisieren Begutachtungsanleitung des MDS zu geschlechtsangleichenden Maßnahmen

Im Jahr 2018 wurde federführend durch die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) eine AWMF-S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung im Kontext von Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit veröffentlicht (1). Daraufhin aktualisierte 2020 der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) die Begutachtungsanleitung (BGA) des GKV-Spitzenverbandes zu geschlechtsangleichenden Maßnahmen bei Transsexualismus (2).

Vertreterinnen und Vertreter der an der S3-Leitlinie beteiligten Fachgesellschaften, darunter neben der DGfS auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) und die Deutsche Gesellschaft für Medizinische Psychologie (DGMP), formulierten nun am 12.4.2021 in einer gemeinsamen Stellungnahme (3) folgende Kritikpunkte an dieser Begutachtungsanleitung (BGA):

Sie beschränke sich ausschließlich auf erwachsene Betroffene, die exakt die Kriterien der ICD-10-Diagnose Transsexualismus (F64.0) erfüllten. Dabei seien diese Kriterien inzwischen als überholt anzusehen und entsprechend in den Klassifikationssystemen DSM-5 sowie der ab 2022 gültigen ICD-11 in die Konzepte Geschlechtsdysphorie bzw. Geschlechtsinkongruenz überführt worden, um auch den auf 30 % geschätzten Anteil der Personen innerhalb des „trans*-Spektrums“ mitzuberücksichtigen, der keine binäre Geschlechtsidentität habe. Kinder und Jugendliche sowie nicht binäre Geschlechtsidentitäten würden somit durch die BGA nicht erfasst.

Weitere Kritik äußerten die Verfasserinnen und Verfasser der Stellungnahme an konkreten Zeitkriterien der BGA: So sei die a priori gemachte Vorgabe, im Rahmen eines Transitionsprozesses mindestens 12 Sitzungen Psychotherapie à 50 Minuten über mindestens sechs Monate durchzuführen, weder als wirksame Maßnahme belegbar, mit der Geschlechtsdysphorie bei Betroffenen reduziert werden könne, noch sei sie mit der Psychotherapie-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses G-BA vereinbar, da es sich somit um „forcierte Gespräche“ handele. Gemäß Psychotherapie-Richtlinie seien aber psychotherapeutische Behandlungen nicht indiziert, wenn bei Betroffenen keine Freiwilligkeit und Bereitschaft dafür vorliege. Zudem sei die Indikation für die Behandlung immer im individuellen Fall von den Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zu stellen. Psychotherapie stelle ein Angebot, aber keine verpflichtende Maßnahme des Transitionsprozesses dar.

Die Festlegung bestimmter zu absolvierender psychotherapeutischer Kontingente sei deshalb nach heutigem Wissensstand auch nicht mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot zu begründen. Die BGA halte daran fest, dass vermeintlich kostengünstigere psychiatrisch-psychotherapeutische Mittel per se ausgeschöpft werden müssten, bevor teurere chirurgische Maßnahmen eingeleitet würden. Diese Annahme sei aber weder klinisch noch empirisch nachzuvollziehen, sondern zumeist werde der Wunsch nach angleichenden Operationen bei Betroffenen durch Psychotherapien nicht modifiziert. Die Prognosestellung für körpermodifizierende Maßnahmen laufe höchst individuell ab und somit sei eine allgemeine Zeitvorgabe nicht hilfreich.

Die Empfehlungen der MDS-Begutachtungsanleitung, psychische Störungen, die ggf. begleitend zur Geschlechtsdysphorie auftreten, grundsätzlich vor der Einleitung geschlechtsangleichender Maßnahmen zu stabilisieren, werden von den Vertreterinnen und Vertretern der Fachgesellschaften in Frage gestellt, da auch ein paralleles Stabilisieren in vielen Fällen möglich und sinnvoll sei. Ausnahmen hiervon seien jedoch diejenigen psychischen Störungen, bei denen eine direkte Beeinflussung der Geschlechtsdysphorie, z. B. durch wahnhafte Symptomatik, möglich sei.

Fazit der Stellungnahme ist, eine Behandlung, die der BGA des MDS folge, sei weder mit dem aktuellen Wissensstand im Bereich der Geschlechtsidentität noch mit berufsethischen Grundsätzen vereinbar. Eine Überarbeitung werde als dringend geboten angesehen.

Literatur

1 Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (2018): Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit: S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung. Verfügbar unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/138-001.html , Zugriff am 10.5.2021.

2 Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (2021): Stellungnahme der die AWMF S3-Leitlinie verantwortenden wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften zur Begutachtungsanleitung (Richtlinie des GKV-Spitzenverbandes nach § 282 SGB V) Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualismus (ICD-10, F64.0). Verfügbar unter: https://dgfs.info/wp-content/uploads/2021/04/Gemeinsame_Stellungnahme_M…, Zugriff am 10.5.2021.

3 MDS (2020): Begutachtungsanleitung - Richtlinie des GKV-Spitzenverbandes nach § 282 SGB V: Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualismus (ICD-10, F64.0) [Guideline by the medical review board of the statutory health insurance funds]. Essen: Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen.

Anschrift des Verfassers

Dipl.-Psych. Felix Aßhauer
Psychologischer Psychotherapeut
p. Adr.: Asklepios Klinik
Nord - ­Ochsenzoll
Langenhorner Chaussee 560
22419 Hamburg

Büro für Gutachten, Fortbildung und Beratung
Riesserstraße 3
20535 Hamburg

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