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Gefährliche Nebenwirkungen alternativer Medizin in der Onkologie

Mindestens die Hälfte aller Krebspatienten nutzt Methoden der komplementären und alternativen Medizin (KAM), wobei die Differenzierung zwischen seriösen und unseriösen Angeboten oft nicht leicht ist, erklären Jutta Hübner und Christian Keinki vom Universitätsklinikum Jena und Bijan Zomorodbakhsch
aus Goslar in der Fachzeitschrift „Der Onkologe“ (2020; 26 [2]: 169–177). Durch solche Behandlungen können jedoch massive direkte und indirekte Schäden entstehen.

Wichtig ist zunächst die Definition der Begriffe: Während komplementäre Medizin auf dem Boden der evidenzbasierten Medizin steht, ist alternative Medizin gekennzeichnet durch ein Vorgehen jenseits der evidenzbasierten Medizin, wobei elementare Konzepte der Naturwissenschaften oder auch der evidenzbasierten Medizin geleugnet werden. Häufig bestehen zwar Hypothesen für (angebliche) Wirkmechanismen von alternativer Medizin; diese widersprechen aber meist naturwissenschaftlichen Grundsätzen oder es handelt sich um bereits durch Experimente oder Studien widerlegte Vorstellungen.

Alternative Medizin wird teilweise anstelle von, häufig aber parallel zur konventionellen bzw. Schulmedizin eingesetzt. Insbesondere in letzterer Situation kann sie durch Neben- und Wechselwirkungen gefährlich werden. Als Alternative eingesetzt ist der Schaden durch Tumorwachstum und ggf. den Tod des Patienten, aber auch durch nicht ausreichend behandelte Symptome und Beschwerden, besonders deutlich.

Mehrere Studien aus den vergangenen 20 Jahren zeigen, dass Nutzer von komplementärer und/oder alternativer Medizin ein signifikant schlechteres Gesamtüberleben haben. Insbesondere wenn die schulmedizinische Standardtherapie abgelehnt wird, kommt es zu einer deutlichen Verschlechterung der Prognose.

Für den Einsatz von alternativer Medizin bestehen prinzipiell keine Indikationen. Insofern ist jede auftretende Nebenwirkung einer deutlichen Schädigung des Patienten gleichzusetzen.

Das zeigen die Autoren am Beispiel von Amygdalin, dessen Einnahme derzeit in Deutschland offenbar weit verbreitet ist (wie der Referent aus eigener Erfahrung bei entsprechenden Begutachtungen bestätigen kann). Im Internet finden sich zahlreiche Berichte über Patienten, die mit dieser Therapie geheilt worden sein sollen, obwohl wissenschaftliche Daten hierzu fehlen. Nach oraler Aufnahme wird aus Amygdalin Mandelonitrit freigesetzt, welches durch die Darmflora zu Benzaldehyd und Blausäure transformiert wird. Angeblich sollen gesunde Zellen und Tumorzellen sich in ihrer Ausstattung so unterscheiden, dass die Tumorzelle an der Blausäure zugrunde geht, während die gesunde Zelle dies überlebt.

Es gibt sogar Ärzte, die trotz einer Warnung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und des Bundesamts für Risikobewertung Amygdalin als Infusion anbieten, kritisieren die Autoren. Schon in den 1980er-Jahren hat jedoch eine Studie mit fast 180 Patienten gezeigt, dass Amygdalin keinen Überlebensvorteil bringt. Trotz maximaler Überwachung traten in dieser Studie Blausäure-Intoxikationen und hohe Zyanidspiegel bis hin zur letalen Dosis auf. Auch aus Deutschland sind Zyanid-Intoxikationen beschrieben wor­den; zuletzt bei einem vierjährigen Kind mit einem rezidivierenden anaplastischen Ependymom Grad 3 WHO in fortgeschrittener Krankheitsphase, dessen Eltern eine alternative Heilung herbeiführen wollten.

Intensiv diskutiert wurde der Fall von mehreren Toten unter Behandlung mit 3‑Brompyruvat durch einen Heilpraktiker. Dies führte u.a. zu der Forderung, dass Heilpraktiker überhaupt keine Infusionen mehr verabreichen dürfen. Bisher konnten diese Sicherheitsmaßnahmen für Patienten aber nicht durchgesetzt werden.

Sogar vermeintlich harmlose Präparate wie Heilpflanzen können zu Allergien und zu unterschiedlichen Organschäden mit potenziell vitaler Bedrohung führen: Zu erwarten, dass wirksame Phytotherapeutika komplett nebenwirkungsfrei sind, ist eine Fehlannahme; alle wirksamen Substanzen können zu Nebenwirkungen führen, warnen die Autoren. Leider sei auch im Zuge der Verharmlosung von Phytotherapeutika und deren Klassifizierung als „Besondere Therapierichtung“ im Arzneimittelgesetz die notwendige wissenschaftliche Expertise beim Einsatz pflanzenheilkundlicher Präparate zunehmend in Deutschland reduziert worden. Auch Nahrungsergänzungsmittel und Tees bergen die Gefahr, teils bedrohliche Nebenwirkungen zu verursachen.

Zudem treten Wechselwirkungen zwischen komplementären bzw. alternativen Methoden und Arzneien und konventioneller Therapie häufiger auf als vielfach vermutet. So zeigen verschiedene Untersuchungen, dass bei einem Viertel bis zu 40 % der Patienten mit Interaktionen gerechnet werden muss.

Die Autoren verdeutlichen die Problematik am Beispiel der Misteltherapie und deren möglichen Interaktion mit modernen immunologischen Therapien: Die Mistel führt zu einer unspezifischen Immunstimulation. Neben zwar selten, aber gut charakterisierten Überempfindlichkeitsreaktionen ist aktuell unklar, ob durch den parallelen Einsatz der Misteltherapie zu modernen Immuntherapien ein erhöhtes Risiko für Autoimmunphänomene bestehen könnte.

Ein fehlendes Wissen um das potenzielle Schädigungspotenzial komplementärer und/oder alternativmedizinischer Methoden lässt bei vielen behandelnden Ärzten jedoch erst gar nicht den Gedanken einer hiermit in Zusammenhang stehenden Bedrohung aufkommen. Es bedarf daher einer intensiveren Wissensvermittlung über das potenzielle Schadenspotenzial von KAM-Methoden sowohl an Behandler als auch an ­Patienten, fordern die Autoren abschließend.

G.-M. Ostendorf, Wiesbaden