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Zum Beitrag von J. Schmidt, J. und Grüner, R. : Vergleich von Behandlung und Rehabilitation: Sozialrechtliche Mitwirkungspflicht versus zivilrechtliche Schadensminderungspficht, in MedSach-Ausgabe 117 4/2021 S. 159 ff.:

Den Autoren vorab besten Dank für die Diskussion des wichtigen Themas Vergleichbarkeit von Vorschriften im Zivil- und Sozialrecht.

Ich möchte eine Ergänzung anbieten zu einem in meiner Begutachtungspraxis nicht seltenen Dilemma bei der Zumutbarkeit zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 64 SGB I) auf S. 162 des Artikels:

  • In bestimmten Berufs- und Bevölkerungsgruppen gehen den Anträgen auf Gewährung von stationären/teilstationären und ambulanten Rehabilitationsmaßnahmen (außer Kfz.-Hilfen) sowie Rentenanträgen nicht selten Verfahren im Schwerbehindertenrecht voraus und es gibt nicht selten bereits eine Anerkennung eines GdB von 30/40 mit Gleichstellung oder GdB 50 und höher.
    Dann stellt sich mir immer auch die Frage, wenn im Antrag Leistungsunfähigkeit (< 3 Std. tgl.) für den Allgemeinen Arbeitsmarkt geltend gemacht wird, inwieweit es zumutbar ist, dass dem schwerbehinderten (oder recht stark behinderten) Antragsteller die Tätigkeit in einer Werkstätte für Menschen mit Behinderung (W.f.b.M.) angeboten werden muss und inwieweit er hierbei zur Mitwirkung verpflichtet ist.
  • Noch schwieriger gestaltet sich die Stellungnahme für den Gutachter, wenn diese behinderten Antragsteller in der Vorgeschichte eine Suchtanamnese aufweisen, da viele Werkstätten hier Ausschlüsse für die Beschäftigung geltend machen bzw. viel zu wenig Krankheitseinsicht beim Versicherten existiert, diesen Aspekt sachgerecht wahr zu
    nehmen.
  • Nicht selten wird auch nach der Notwendigkeit von zusätzlichen Arbeitspausen gefragt, deren positive Beantwortung evtl. die Annahme von erheblicher Leistungsminderung auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt präjudiziert, obwohl in einer W.f.b.M. solche Pausen eher die Regel als die Ausnahme wären und Belastbarkeit von 6 Std. und mehr auf diesem Besonderen Arbeitsmarkt anzunehmen wäre.
  • Suchtkranke geben in der Anamnese überaus häufig Trennung von Ehefrau und Kindern an und können ohne Kontakt zur Peer Group keinen adäquaten Tagesrhythmus halten. Bei diesen trüge eine langfristige Integration in eine W.f.b.M. auch einen stabilisierenden Effekt bzgl. der Abhängigkeitskrankheit bei. Es gibt zwar z. B. bei uns in Detmold das Angebot „Tagesstruktur“ von Suchthilfevereinen. Dort können die Betroffenen (vermutlich aus rentenrechtlichen Gründen?) maximal 3 Std. tgl. beschäftigt werden. Der Tag hat allerdings 24 Std. und die Woche auch das Wochenende, wo keine Hilfestellung möglich ist. Ich empfehle hierzu gelegentlich (auch bei anstrengend durchgehaltener Abstinenz) eine Auffangbehandlung in einer Suchtfachklinik, die diese Rehabilitationsmaßnahmen anbieten mit dem Ziel, die Abstinenzfähigkeit des Betroffenen hin zu einer „stabilen und zufriedenen Abstinenz“ ohne verbliebenen Suchtdruck zu festigen. Hieraus folgt manchmal auch die Empfehlung zur anschließenden Adaption in einer sozialtherapeutischen stationären oder teilstationären Einrichtung, von wo aus
    Praktika in Industrie- und Handwerksbetrieben und stufenweise Wiedereingliederung in den Allgemeinen Arbeitsmarkt oder zumindest in 1-€-Jobs u. Ä. organisiert werden können. Bei dieser Klientel steht das Angebot einer gesundheitsfördernden Tagesstruktur im Vordergrund und trägt damit auch zur Verminderung von Krankheitskosten und Sozialleistungen bei.
  • An die Autoren die Frage, in wie weit derartige Maßnahmen zumutbar sind gem. § 64 SGB I.

    Anschrift des Verfassers

    Dr. med. H. Baiker
    Nervenarzt
    Zertifizierter Gutachter der DGNB
    Lange Str. 55
    32756 Detmold

    Antwort der Verfasser:

    Vielen Dank für Ihre sehr wichtigen Ergänzungen. Die Autoren haben sich aufgrund der fachlichen Herkunft des Erstautors aus der Unfallchirurgie auf den Personenschaden konzentriert. Die Herleitung der Äquivalente zwischen Zivil- und Sozialrecht, so wie in der Arbeit dargestellt, bezieht sich auch in der Hauptsache auf diesen Patientenkreis.

    Die in den Ausführungen angesprochenen Problemfelder stellen unserer Auffassung nach ein besonderes Problemfeld dar, welches nicht mit den „einfachen“ Lösungen, die wir in unserer Arbeit dargestellt haben, zu beschreiben geht. Alleine schon die angesprochene Suchtproblematik beansprucht eine weitergehende Betrachtung, ist doch die Mitwirkung an Maßnahmen bei dieser Patientengruppe neben dem „Wollen“ auch von dem „Können“ abhängig.

    Aus richterlicher Sicht möchten wir hier nur allgemein anfügen, dass die Beurteilung der Geeignetheit und der Erfolgsaussichten einer Maßnahme bei Durchsetzung der Mitwirkung natürlich auch dem jeweiligen medizinischen Fachgebiet vorbehalten sind. Kriterien sind die Ansichten der Fachgesellschaften, eventuelle empirische Untersuchungen der Folgen einer Methode bei größeren Patientengruppen und letztlich wissenschaftliche Veröffentlichungen hierzu. Dies alles kennen Sie sicher besser als wir, die Autoren, die wir uns zunächst auf das unfallchirurgische Fachgebiet beschränkt haben.

    Zusammenfassend haben Sie sehr wichtige Gesichtspunkte in die Diskussion eingebracht, die aber aufgrund der komplexen Persönlichkeitsproblematiken auch weiterhin individuell gutachterlich betrachtet werden müssen und nicht ohne gute Begründung als Obliegenheitsverletzung betrachtet werden dürfen.

    Anschrift für die Verfasser

    Dr.med.Jörg Schmidt
    Ärztlicher Direktor
    Institut für Rehabilitationsforschung u. Personenschaden-Management,
    An-Institut der Medizinischen ­Hochschule Brandenburg Theodor Fontane
    Warener Straße 1
    12683 Berlin

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