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LSG Nordrhein-Westfallen, Urteil vom 16.5.2019 – L 8 R 350/17 Schlagwörter: Begutachtung – Erwerbsminderung – Fibromyalgie – Sachverständige – Anforderungen

Leitsatz:

Auch wenn ein zur Begutachtung von Fibromyalgie zu bestellender Sachverständiger über „fachübergreifende“ Erfahrungen hinsichtlich der Diagnostik und der Beurteilung dieses Krankheitsbildes besitzen muss, beinhaltet dies nicht, dass eine Begutachtung von Patienten mit dem Krankheitsbild Fibromyalgie durch zwei Fachärzte, die beide über Erfahrungen mit diesem Krankheitsbild verfügen, auf ihren jeweiligen Fachgebieten unstatthaft wäre.

Aus den Gründen:

(1–14) Die … 1969 geborene Klägerin, die den Beruf der Arzthelferin erlernt und zuletzt ausgeübt hat, begehrt Rente wegen Erwerbsminderung. ... Die Beklagte lehnte den Rentenantrag … mit der Begründung ab, diese sei noch in der Lage, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden und mehr täglich erwerbstätig zu sein … und wies den Widerspruch der Klägerin sodann zurück …

(15–24) Das SG hat die Klage abgewiesen … Gegen das … Urteil hat die Klägerin … Berufung eingelegt.

(25–26) Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet. ... Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung aus §§ 43, 240 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) ...

(27) 2. Nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI haben Versicherte nur dann Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie teilweise erwerbsgemindert (§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI), d.h. wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Diese Voraussetzung ist bei der Klägerin nicht erfüllt. Denn trotz der bei ihr bestehenden gesundheitlichen Störungen [dazu unter a)] und den sich daraus ergebenden Funktionsbeeinträchtigungen [dazu unter b)] ist sie nicht außerstande, mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig zu sein [dazu unter c)].

(28) a) Bei der Klägerin bestehen folgende Krankheiten, die Auswirkungen auf ihr Funktionsniveau haben: Fibromyalgiesyndrom mit großflächiger Schmerzchronifizierung, vegetativer Zusatzsymptomatik und Minderbelastbarkeit des Bewegungs- und Haltungsapparates; anhaltendes Brust- und Lendenwirbelsäulensyndrom mit Beinausstrahlung beidseits ohne klinisch erfassbare nervenbedingte Ausfälle oder Nervenwurzelreizungen mit muskulär statischer Fehlhaltung, Wirbel- und Kreuzdarmgelenkdysfunktionen sowie Minderbelastbarkeit der Wirbelsäule und der Lenden-/Beckenregion; Schulterengpasssyndrom links bei Sehnenansatzverkalkung und Schleimbeutelentzündung mit geringen Funktionsstörungen und Minderbelastbarkeit der linken Schulter; klinische Zeichen eines sog. Tennisarmes links ohne wesentliche Funktionsstörungen mit Minderbelastbarkeit des linken Armes und der linken Hand; gering erhöhte Entzündungswerte (BSG und CRP) ohne weitere Hinweise auf entzündlich-rheumatische Erkrankungen; anhaltende somatoforme Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren; eine im Alltag weitgehende kompensierte Panikstörung.

(29) aa) Diese Feststellungen beruhen insbesondere auf den Sachverständigengutachten von Dr. P und Dr. C. Die Sachverständigen haben ihre Gutachten unter Auswertung sämtlicher vorliegender Arzt- und Befundberichte sowie Vorgutachten erstattet. Sie haben eingehende Anamnesen erstattet und die Klägerin sorgfältig und gewissenhaft untersucht. Die aus diesen Feststellungen abgeleiteten Diagnosen und die sich hieraus ergebenden quantitativen und qualitativen Funktionseinschränkungen haben sie eingehend und überzeugend begründet. Dabei haben sie insbesondere den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand der Zustandsbegutachtung beachtet, wie er sich aus der Leitlinie für die ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen (4. Akt. 2017, https://www.awmf.org/uploads/tx szleitlinien/094-003l S2k Schmerzbegutachtung 2018-01.pdf) ergibt. Die Feststellungen der Sachverständigen stehen in allen wesentlichen Punkten in Übereinstimmungen mit den erstinstanzlich erstatteten Gutachten von Dr. O und Dr. L1. Aus welchen Gründen abweichend vom Gutachten von Dr. O von einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung auszugehen ist, hat der Sachverständige Dr. P in seinem Gutachten eingehend dargelegt.

(30) bb) Die dagegen erhobenen Einwände der Klägerin greifen nicht durch.

(31) (1) Zu Unrecht meint die Klägerin, zur sachgerechten Begutachtung der Fibromyalgie bedürfe es eines (einzigen) Gutachtens eines Sachverständigen mit fachübergreifenden dieses Krankheitsbild betreffenden Erfahrungen.

(32) In seiner Entscheidung vom 3.7.2002 (B 5 RJ 18/01 R, juris) hat das BSG darauf hingewiesen, dass ein zur Begutachtung von Fibromyalgie zu bestellender Sachverständiger über „fachübergreifende“ Erfahrungen hinsichtlich der Diagnostik und der Beurteilung dieses Krankheitsbildes besitzen müsse, unabhängig davon, ob er von Haus aus als Internist, Rheumatologe, Orthopäde, Neurologe oder Psychiater tätig sei. Es hat sich hierfür auf die einschlägige gutachterliche Fachliteratur bezogen (vgl. hierzu auch BSG, Beschluss v. 9.4.2003, B 5 RJ 80/02 B, juris). Daraus kann allerdings nicht der Schluss gezogen werden, dass eine Begutachtung von Patienten mit dem Krankheitsbild Fibromyalgie durch zwei Fachärzte auf ihren jeweiligen Fachgebieten unstatthaft wäre, soweit beide über Erfahrungen mit diesem Krankheitsbild verfügen und einer der beiden Sachverständigen die Verantwortung einer Gesamtbeurteilung übernimmt:

(33) (a) Aus § 407a Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO), der über § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG im sozialgerichtlichen Verfahren anwendbar ist, ergibt sich, dass ein Sachverständiger Gutachten nur innerhalb seines Fachgebietes erstatten darf. Bei medizinischen Sachverständigen ergeben sich die Fachgebietsgrenzen in der Regel aus den Facharztbezeichnungen. Ein Sachverständiger ist daher gehalten, bei Fragestellungen, die sein Fachgebiet überschreiten, auf die Notwendigkeit einer Zusatzbegutachtung hinzuweisen (§ 407a Abs. 1 Satz 2 ZPO). Hieraus und aus dem Umstand, dass sich gerade bei Schmerzerkrankungen somatische und psychische Faktoren und Beeinträchtigungen oftmals überschneiden, trägt die Leitlinie für die ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen dadurch Rechnung, dass sie neben einer organmedizinischen Begutachtung (hier auf orthopädisch-rheumatologischem Gebiet durch Dr. C) eine psychiatrische Begutachtung (hier durch Dr. P) für erforderlich hält. Damit wird der Anforderung des BSG, fachübergreifende Erfahrungen für die Begutachtung fruchtbar zu machen, in besonderer Weise bei gleichzeitiger Einhaltung der jeweiligen Fachgebietsgrenzen Rechnung getragen. Dass die Sachverständigen in der Begutachtung von Menschen mit der Erkrankung Fibromyalgie erfahren sind, haben sie auf Befragen des Senates ausdrücklich mitgeteilt. Anhaltspunkte, hieran zu zweifeln, sind weder ersichtlich noch vorgetragen worden.

(34) (b) Ein „fachübergreifendes“ Gutachten im Sinne der zitierten Rechtsprechung des BSG ist dabei eingeholt worden, indem der Sachverständige Dr. P zum Hauptsachverständigen und Dr. C zur Zusatzgutachterin ernannt worden ist. Dr. P hat dabei auftragsgemäß die Erkenntnisse von Dr. C in seine Gesamtbeurteilung einfließen lassen, sodass dahingestellt bleiben kann, ob es einer solchen im vorliegenden Fall bedurfte (vgl. hierzu BSG, Beschluss v. 6.9.2017, B 5 R 51/17 B; zur Fibromyalgie im dortigen Einzelfall bejahend BSG, Beschluss v. 12.2.2009, B 5 R 48/08 B; jeweils juris). Dabei kann keine Rede davon sein, dass Dr. P die Beurteilung, insbesondere die Diagnosen, von Dr. C als „Fremddiagnosen“ übernommen habe. Zwar hat er in seinem Gutachten – erkennbar zur Vermeidung von Redundanzen – auf dasjenige von Dr. C verwiesen. Ungeachtet dessen hat er jedoch – worauf es entscheidend ankommt – die Wechselwirkungen zwischen seinen Feststellungen und denjenigen von Dr. C ausdrücklich berücksichtigt (vgl. S. 42 seines Gutachtens, Bl. 542 Gerichtsakten [GA]). Soweit er dabei neben der von der Zusatzgutachterin Dr. C bereits diagnostizierten Fibromyalgie die ergänzende Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung gestellt hat, bedeutet dies entgegen der Auffassung der Klägerin nicht, dass er das Krankheitsbild der Fibromyalgie bei der Klägerin nicht selbst festgestellt und in seine Überzeugungsbildung einbezogen hätte. Um sich vom Vorliegen einer Krankheit zu überzeugen, braucht ein Sachverständiger nicht sämtliche Untersuchungen selbst vorzunehmen, soweit diese - wie hier durch Dr. C - bereits fachgerecht und zur ärztlichen Überzeugungsbildung ausreichend vorgenommen worden sind. Im Übrigen handelt es sich um unterschiedliche Krankheitsbilder, deren Diagnosen einander nach der ICD-10-Kodifizierung nicht ausschließen und die im Gegenteil dem von der Klägerin selbst überreichten Auszug aus der Behandlungsleitlinie Fibromyalgiesyndrom zufolge im Einzelfall nebeneinander vorliegen können (vgl. Bl. 570 GA).

(35) (2) Soweit die Klägerin den Einsatz des Funktionsfragebogens Hannover (FFbH) durch Dr. C beanstandet, hat die Sachverständige überzeugend dargelegt, dass dieser Fragebogen auch zur Begutachtung von Fibromyalgieerkrankten geeignet ist. Die dagegen von der Klägerin erhobenen Einwände überzeugen nicht. Es kann dahingestellt bleiben, ob der FFbH zur Diagnostik oder Therapieplanung der Fibromyalgie leitliniengerecht einzusetzen ist. Denn jenseits dessen war es Aufgabe der Sachverständigen Dr. C, schmerzbedingte Funktionsbeeinträchtigungen festzustellen und ggf. Diskrepanzen zwischen vorgetragenem subjektiven Schmerzerleben und erhaltener Funktionalität festzustellen. Hierzu ist, wie die Sachverständige erläutert hat, der FFbH als orientierendes strukturelles diagnostisches Instrument entwickelt und von ihr eingesetzt worden. Im Übrigen stellen die Angaben und Ergebnisse derartiger Fragebögen stets nur Indizien dar, die von den Sachverständigen in die von ihnen zu verantwortende eigenständige Leistungsbeurteilung eingeordnet werden müssen (vgl. BSG, Beschluss v. 9.4.2003, a.a.O.). Genau dies hat die Sachverständige Dr. C jedoch geleistet.

(36) (3) Ebenso fehl gehen die Einwände der Klägerin zur Konsistenzprüfung durch die Sachverständigen.

(37) (a) Zunächst hat die Sachverständige Dr. C in ihrer ergänzenden Stellungnahme klargestellt, dass sie eine solche Konsistenzprüfung vorgenommen hat. Dass sich die von ihr dabei herangezogene Veröffentlichung (Widder/Aschoff, Somatoforme Störungen und Rentenantrag: Erstellen einer Indizienliste zur quantitativen Beurteilung des beruflichen Leistungsvermögens, MedSach 91 (1995), 14 ff.) auf somatoforme Störungen bezieht, ist unerheblich. Das BSG hat diese Veröffentlichung zutreffend ausdrücklich als für die – im Rahmen der Schmerzbegutachtung unverzichtbare - Konsistenzprüfung auch beim Krankheitsbild der Fibromyalgie geeignet zitiert (Beschluss v. 9.4.2003, a.a.O., juris-Rdnr. 8).

(38) (b) Soweit der Sachverständige
Dr. P im Rahmen der von ihm durchgeführten Konsistenzprüfung ausgeführt hat, die Klägerin habe ihr angebotene therapeutische Möglichkeiten nicht ausgeschöpft, hat er sich ersichtlich auf Angaben gestützt, welche die Klägerin dem Befundbericht von Dr. F vom 14.3.2017 (Bl. 340 f. GA) zufolge dort gemacht hat. Danach hat sie das – leitliniengemäß geeignete – Medikament Amitriptylin wegen der damit verbundenen Gewichtszunahme nicht weiter eingenommen und an einer Selbsthilfegruppe in H nicht teilgenommen, weil ihr die Gruppenmitglieder dort zu alt gewesen seien. Der Klägerin war der Befundbericht von Dr. F bekannt. Sie ist seinem Inhalt nicht entgegengetreten. Infolgedessen begegnet es keinen Bedenken, dass der Sachverständige ihre dort wiedergegebenen Angaben im Rahmen der Konsistenzprüfung verwertet hat.

(39) Nichts anderes gilt, soweit der Sachverständige Dr. P – gestützt auf Angaben der Klägerin bei der Anamnese – ausgeführt hat, die Klägerin habe die ihr im Entlassungsbericht des Krankenhauses St. K vom 5.7.2017 erteilten Empfehlungen nicht vollständig umgesetzt. So hat die Klägerin dem Gutachten von Dr. P zufolge diesem gegenüber angegeben, sie führe weder Reha-Sport noch Funktionstraining durch. Auch Entspannungsverfahren würden nicht konsequent angewandt. Zusätzliche Schmerzmittel nehme sie nicht, weil sie ihr nicht helfen würden. Demgegenüber war im o.g. Entlassungsbericht die zusätzliche Einnahme des zur Behandlung von Nervenschmerzen zugelassenen Medikamentes Pregabalin empfohlen worden.

(40) (c) Ohne Erfolg wendet sich die Klägerin schließlich gegen das Argument der Sachverständigen, eine regelrechte Muskulatur und Beschwielung spreche dagegen, dass sie ihren Alltag (lediglich) passiv lebe. Unabhängig von der Frage, dass die Beweglichkeit bei Fibromyalgie nicht beeinträchtigt ist, sprechen beide Kriterien für eine regelmäßige Bewegung und Aktivität. Bei weitestgehender körperlicher Inaktivität müsste dagegen eine deutliche Muskelatrophie feststellbar sein, die bei der Klägerin nicht bestand (vgl. zur Bedeutung der Hand- und Fußbeschwielung als Konsistenzkriterium in der Schmerzbegutachtung vgl. auch Leitlinie zur ärztlichen Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen, a.a.O., Tabelle 3.2).

(41) cc) Weitergehende Ermittlungen von Amts wegen waren nicht veranlasst.

(42) (1) Soweit die behandelnden Ärzte Dr. L2 und T darüber hinaus auf das Bestehen einer arteriellen Hypertonie und einer Refluxkrankheit hingewiesen haben, ist nicht ersichtlich, inwieweit das Leistungsvermögen der Klägerin hierdurch weitergehend … reduziert werden könnte …

(43) (2) Der Senat hat sich nicht gedrängt gesehen, den Ehemann der Klägerin als präsenten Zeugen zu vernehmen. …

(44) b) Aufgrund der von den Sachverständigen festgestellten Gesundheitsstörungen ist die Klägerin nur noch in der Lage, körperlich leichte Arbeiten ständig zu verrichten.

(45) Diese Feststellungen beruhen wiederum auf den Sachverständigengutachten von Dr. P und Dr. C, denen aus den genannten Gründen zu folgen ist. Die Sachverständigen befinden sich auch hinsichtlich der Leistungsbeurteilung in den wesentlichen Punkten in Übereinstimmung mit den Vorgutachten erster Instanz. Soweit sich die behandelnden Ärzte Dr. N und Dr. L zum Leistungsvermögen der Klägerin geäußert haben, stehen ihre Annahmen den Feststellungen der Sachverständigen nicht entgegen. Gegenüber der Einschätzung von Dipl.-Psych. N1, der Klägerin sei die Teilhabe am allgemeinen Arbeitsmarkt verschlossen, ist dem Sachverständigengutachten von Dr. P aufgrund der dort vorgenommenen eingehenden, mit einer Konsistenzprüfung verbundenen epikritischen Überlegungen der Vorzug zu geben.

(46) c) Mit diesem Leistungsvermögen ist die Klägerin nicht außerstande, sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein.

Redaktionell überarbeitete Fassung,
eingereicht von P. Becker, Kassel