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Bedeutung der evidenzbasierten Medizin für die medizinische Begutachtung

Die Frage, was die evidenzbasierte Medizin (EbM) zu einer objektiven und neutralen medizinischen Begutachtung beitragen kann, war eines der Themen auf dem 11. Kongress für Versicherungsmedizin und Begutachtung am 6. Dezember 2018 in Frankfurt/Main unter Vorsitz von Klaus-Dieter Thomann, veranstaltet vom IVM – Privates Institut für Versicherungsmedizin in Frankfurt.

Über Leitlinien und evidenzbasierte Medizin als Instrumente des Wissensmanagements sowie sich daraus ergebende Möglichkeiten für die medizinische Begutachtung berichtete Ute-Susann Albert von dem Klinikum Kassel und Vertreterin des AWMF – IMWI (AWMF-Institut für Medizinisches Wissensmanagement) im Deutschen Netzwerk für Versorgungsforschung.

Leitlinien sind, wie sie erklärte, systematisch entwickelte Aussagen, die den gegenwärtigen Erkenntnisstand wiedergeben und den behandelnden Ärzten (ebenso wie ihren Patienten) die Entscheidungsfindung in einer spezifischen Situation erleichtern. Sie enthalten Empfehlungen zur Verbesserung der Versorgungsqualität und basieren auf einer systematischen Sichtung der Evidenz sowie der Abwägung von Nutzen und Schaden alternativer Vorgehensweisen.

Es gibt einen internationalen Konsens über die Anforderung an die Qualität von Leitlinien, nach dem sich auch die AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V.) richtet. Eingeteilt sind Leitlinien in sogenannte „S-Klassen“; in aufsteigender Reihenfolge hinsichtlich der Systematik:

S1 – Handlungsempfehlungen von Expertengruppen (Konsensusfindung in einem informellen Verfahren)

S2e – Konsensusbasierte Leitlinie (repräsentatives Gremium und strukturierte Konsensusfindung)

S2k – Evidenzbasierte Leitlinie (systematische Literaturrecherche)

S3 – Evidenz- und konsensusbasierte Leitlinie (repräsentatives Gremium, systematische Literaturrecherche und strukturierte Konsensusfindung)

Besonders relevant ist die systematische Literaturrecherche, welche entscheidender Bestandteil der S2k- und der S3-Leitlinien ist.

Somit liegt es nahe, hochwertige Leitlinien aus dem Register der AWMF, welche nach den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin erstellt wurden, auch als Wissensgrundlage für Begutachtungsfragen heranzuziehen, erklärte Albert. Hochwertige Leitlinien kann der Gutachter anfand folgender Kriterien erkennen:

Redaktionelle Unabhängigkeit

Repräsentativität des Leitliniengremiums

Evidenzbasierung (obligat für die Klassifikation S2k und S3)

Strukturelle Konsensusfindung

Analyse von Barrieren für die Umsetzung und Implementierung der Leitlinie

Monitoring der Auswirkung auf die Versorgung

Vor Erstellung eines Gutachtens sollten daher jeweils folgende Fragen geklärt werden:

Liegen Empfehlungen aus Leitlinien für eine bestimmte klinische Fragestellung oder Entscheidungssituation vor?

Sind die Leitlinienempfehlungen zur Fragestellung noch aktuell?

Wurden die Leitlinien nach anerkannten methodischen Standards entwickelt?

Wie ist die professionelle Akzeptanz der Leitlinie?

Wie sind die für die jeweilige Fragestellung relevanten Leitlinienempfehlungen begründet? (Konsensniveau, Empfehlungsgrad und Konsensstärke, was in deutschen Leitlinien immer angegeben wird)

Sind diese Empfehlungen auch auf die individuelle Entscheidungssituation anwendbar?

Gutachter liefern durch ein solches Vorgehen einen Beitrag, evidenzbasiertes Wissen weiterzugeben, erklärte Albert abschließend.

Auf die Frage, ob EbM ein „Korsett“ für den medizinischen Gutachter darstellt, und auf die Bindungswirkung von Leitlinien im Gesundheits- und Gutachtenwesen ging anschließend Ina B. Kopp, Leiterin des AWMF-Instituts für Medizinisches Wissensmanagement, Universität Marburg, ein.

Sie erklärte, dass die evidenzbasierte Medizin keinesfalls zu einer „Kochbuchmedizin“ führen dürfe, was entsprechend auch für die Begutachtung gelte. Stattdessen müsse immer geprüft werden, inwieweit eine Leitlinie auf den individuellen Patienten (bzw. bei der Begutachtung auf den individuellen Probanden) anwendbar sei. Leitlinien und Begutachtungsempfehlungen seien auf das gleiche Ziel ausgerichtet. Von einem „Korsett“ könne daher nicht die Rede sein.

Allerdings wies Kopp auch auf Probleme bei der Anwendung von EbM-Kriterien in der Begutachtung hin:

So existiert ein relevantes Spannungsfeld im Hinblick auf die unterschiedlichen Bindungswirkungen von Leitlinien in der haftungsrechtlichen Begutachtung gegenüber der sozialrechtlichen Begutachtung für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV). Der behandelnde Arzt kann hier in ein Dilemma zwischen dem „Mindeststandard“ der GKV und dem „Goldstandard“, wie er aus einer Leitlinie hervorgehen könnte (der dann für die haftungsrechtliche Begutachtung relevant wäre), geraten. Dieses Spannungsfeld muss aufgelöst werden, forderte Kopp.

Problematisch für die Begutachtung ist weiter das „Nikolausurteil“ (korrekt wäre „Nikolausbeschuss“) des Bundesverfassungsgerichts vom 6.12.2005 (AZ: 1 BvR 347/98): Demnach hat ein GKV-Versicherter einen Anspruch auf Kostenübernahme für außervertragliche Behandlungsmethoden zu Lasten der GKV – allerdings nur dann, wenn für eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine Behandlung nach anerkanntem und medizinischem Standard nicht zur Verfügung steht. Die Kostenübernahme darf dann nicht ausgeschlossen werden, wenn „eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht“.

Durch dieses „Nikolausurteil“ wurde ein gewisses „Einfallstor“ für nicht evidenzbasierte Medizin (wobei es sich in der Regel sogenannte alternativmedizinische Methoden und Behandlungskonzepte handelt) in die GKV geschaffen, erklärte Kopp.

G.-M. Ostendorf, Wiesbaden 

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