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Editorial

Kenntnisse der Geschichte lassen es vermeiden, wirkliche Neuerungen mit einer nur phasenweisen Wiedererscheinung von schon Altbekanntem zu verwechseln. So ist im ersten Beitrag dieser Ausgabe von Nüchtern über die Berücksichtigung von Kontextfaktoren in der sozialmedizinischen Begutachtung darauf hingewiesen, dass schon in der ersten Ausgabe der „Anhaltspunkte für die Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit nach dem Reichsversorgungsgesetz vom 12. Mai 1920“ (herausgegeben vom damaligen Reichsarbeitsministerium) in den Vorbemerkungen zu lesen war, dass bei einer gutachtlichen Beurteilung „die erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten sowie die gesamten Lebensverhältnisse des Untersuchten in Betracht zu ziehen“ seien. Das Prinzip der Berücksichtigung nicht einer Gesundheitsstörung allein für sich, sondern auch von Kontextfaktoren wie jetzt in der ICF und der Behindertenkonvention der UN gefordert, hatte zu dieser Zeit also bereits seinen Eingang in die Begutachtung gefunden. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg fand sich in den Ausgaben der „Anhaltspunkte“ bis 1954 noch der Hinweis, dass „jeder Einzelfall individuell gewertet werden muss unter Berücksichtigung aller ursächlichen Umstände und gegebenenfalls der beruflichen Verhältnisse“. In den weiteren folgenden Ausgaben der „Anhaltspunkte“ sucht man derartige Ausführungen dann allerdings vergeblich. Vermutlich wurde es vorausgesetzt, dass jedem Gutachter bewusst sein musste, dass allein die Würdigung der Besonderheit des einzelnen Menschen in all seinen Zusammenhängen eine zutreffende Beurteilung ergeben könnte. Allerdings dürfte man auch erkannt haben, wie schwierig sich die Ermittlung dieser Faktoren und eine nachvollziehbare Begründung ihres Einflusses auf den Einzelfall, gerade bei einem Massengeschäft der Begutachtung, darstellen. Wie diese Kontextfaktoren nach ICF und Behindertenrechtskonventionen heute ihre Rolle in der Begutachtung spielen wird im genannten Beitrag ausführlich erläutert.

Zu Neuerungen in der gutachtlich-augenärztlichen Beurteilung der Blindheit vor der aktuellen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts finden sich im nachfolgenden Beitrag von Braun in Ergänzung seiner Beiträge zu diesem Thema in den Ausgaben 2/2015 und 3/2016 dieser Zeitschrift weitergehende Betrachtungen. Nicht nur der reine Sehvorgang allein mit Visus und Gesichtsfeld steht noch im Mittelpunkt der gutachtlichen Untersuchung, sondern auch der Einfluss zerebraler Veränderungen auf den Vorgang des Sehens und Erkennens insgesamt, was die gutachtliche Beurteilung zweifellos nicht vereinfacht. Auch die zusätzlich erforderliche Feststellung von blindheitsbedingten Mehraufwendungen dürfte den medizinischen Gutachter beschäftigen.

Anschließend an diese beiden Einzelbeiträge beginnt in diesem Heft die Wiedergabe der Vorträge gehalten auf dem letzten Heidelberger Gespräch im Oktober 2018. Hinsichtlich des durchgehenden Hauptanliegens dieser Tagung, nämlich einer Qualitätssicherung und Qualitätsüberprüfung in der Begutachtung, findet sich zunächst eine sozialmedizinische Sicht hierauf von Breuninger auf der Grundlage der Neufassung der AWMF-Leitlinie „Allgemeine Grundlagen der medizinischen Begutachtung“ der Deutschen Gesellschaft für neurowissenschaftliche Begutachtung. Es wird viele Gutachter überraschen, in welchem Ablauf ihre Ausführungen im Gerichtsverfahren von Seiten der Anwaltschaft eine Würdigung erfahren, dies wird im folgenden Beitrag von Siebold erläutert.

Abgeschlossen wird diese Ausgabe der Zeitschrift mit drei Beiträgen zur „Zumutbarkeit von Erwerbstätigkeit und Verschlossenheit des Arbeitsmarktes“. Zunächst wird im Beitrag von Osiander im Überblick dargelegt, wie sich die Situation auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und die Beschäftigung in Deutschland heute darstellen, und welche Veränderungen in Zukunft zu erwarten sein werden. Mit zwei Beiträgen von Stotz aus juristischer und Bahemann aus medizinischer Sicht kommen die praktischen Auswirkungen für den Gutachter zur Sprache.

Zuletzt sei noch an eine in dieser Zeitschrift zu früherer Zeit häufiger zu findende Rubrik erinnert, nämlich die Darstellung des „besonderen Falles“ in der Begutachtung. Hierzu gab es aufgrund fehlender Einsendungen in den letzten Jahren kein Material mehr, wobei aber der Hinweis auf besonders gelagerte Einzelfälle, die sonst keinen Eingang in die Literatur finden, für die praktische Tätigkeit des Gutachters einen nicht zu unterschätzenden Wert haben. Die Leserschaft wird daher in Erinnerung an diese Rubrik aufgefordert, wieder entsprechende ungewöhnliche und interessante Fälle ihrer Gutachtertätigkeit zur Veröffentlichung der Zeitschrift einzusenden – es wird sie sicher geben.

E. Losch, Frankfurt am Main