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Der gerichtlich beauftragte Sachverständige im Arzthaftungsverfahren

Gerhard H. Schlund, vorsitzender Richter am Oberlandesgericht a. D. aus München, bestätigt die (eigentlich provokante) These, dass in weitaus der Mehrzahl gerichtlicher Verfahren der in einer Spezialmaterie – wie etwa in einem Arzthaftungsverfahren im zivil- wie im strafrechtlichen Bereich – in aller Regel unerfahrene Richter dem von ihm beauftragten Sachverständigen und dessen Gutachtenergebnis fast unbesehen glaubt und zur Grundlage seiner Entscheidung macht. Was, so Schlund, soll er auch sonst machen?

Nur wenn den Richter das Gutachten nicht überzeugt, wird er ein weiteres anfordern. Die gilt gerade im Bereich der Medizin, in dem es auf nicht wenigen (Teil-)Gebieten derzeit in drei bis fünf Jahren zu einer Verdoppelung des Wissens kommt und der Fortschritt sich immer rasanter entwickelt.

Dennoch ist und bleibt der Richter „Herr seines Verfahrens“ und seiner eigenen Entscheidung, betont Schlund. Die ihm obliegende Rechtsprechung darf damit nicht durch den gerichtlich beauftragten medizinischen Sachverständigen erfolgen, denn dieser ist kein „Ersatzrichter“, kein „heimlicher Herr des Gerichtsverfahrens“ und auch kein „Richter in weißer Robe“. Es sollte eigentlich alle iatrogen geschädigten Patienten beruhigen, dass inzwischen an zahlreichen Landgerichten Spezialkammern für Arzthaftungsverfahren und an sämtlichen Oberlandesgerichten solche Kammern etabliert sind, so Schlund.

Der Richter ist allerdings gut beraten, wenn er dem von ihm beauftragten Sachverständigen die zur Prozessentscheidung erforderlichen und notwendigen Fragen möglichst exakt stellt. Die Zivilprozessordnung sieht hier im § 404 a u. a. vor, dass das Gericht die Tätigkeit des Sachverständigen zu leiten hat und ihm für Art und Umfang seiner Tätigkeit Weisungen erteilen kann. Der Sachverständige im Zivilprozess ist streng an den Gutachtenauftrag im Beweisbeschluss und die darin enthaltenen Fragen gebunden.

Ganz anders stellt sich dagegen die Situation im Strafprozess dar, erklärt Schlund. Hier muss der Sachverständige, wenn er die Begrenztheit der ihm an die Hand gegebenen Fragestellung erkennt und schlussfolgert, dass für oder gegen den beschuldigten Arzt andere bedeutsame Umstände eine prozessentscheidende Rolle spielen, das „Beweisthema“ sprengen und dazu Stellung beziehen.

Schlund nennt hier folgendes Beispiel: Wird der Sachverständige befragt, ob eine bestimmte Medikation den Tod des Patienten verursacht haben kann, und muss der Sachverständige dies letztlich verneinen, so ist er gehalten, etwaige Anhaltspunkte für eine andere Todescausa in seinem Gutachten aufzuzeigen. Unterlässt er dies, setzt er sich dem berechtigten Vorwurf der Erstellung eines unvollständigen – und damit im Ergebnis unrichtigen – Gutachtens aus.

Bei all diesen Gutachten gilt aber der eherne Grundsatz: Der Sachverständige hat sich allein und ausschließlich auf die Fragestellung von Tatsachen zu beschränken und zu keinen Rechtsfragen Stellung zu beziehen.

Auch gilt für den Sachverständigen eine ständige Fort- und Weiterbildungsverpflichtung im eigenen Fach, um stets den neuesten Stand und die dazu ausgeübte Praxis wiedergeben zu können. Bei Begutachtung eines gerichtlichen Falls, der Jahre zurück liegt, muss er allerdings die zu diesem Zeitpunkt herrschende Ansicht und praktizierten Erkenntnisse berücksichtigen und im Gutachten dezidiert darstellen, auch wenn die medizinische Wissenschaft und Praxis (und die benützten medizinischen Gerätschaften) zum Zeitpunkt der Gutachtenerstellung nicht mehr „in“ sind.

Weiter warnt Schlund vor einer zu engen Auslegung der eigenen Ansicht des Sachverständigen bzw. vor dem Festhalten an seiner eigenen Schule. Andere Ansichten müssen dem Gericht offenbart werden. Das heißt: Dort, wo der Sachverständige nicht zu einem eindeutigen eigenen Ergebnis kommt oder kommen kann, wo Kausalabläufe nur mit einer mehr oder weniger großen Wahrscheinlichkeit angenommen werden können oder wo zu erwarten ist, dass eine andere Schulenmeinung zu einem anderen Ergebnis kommen könnte, gebietet es die wissenschaftliche Redlichkeit, das Gericht darauf hinzuweisen.

(G. H. Schlund: Der medizinische Sachverständige – ein Richter in weißer Robe? tägliche praxis 57 (2016), 4: 769–773)

G.-M. Ostendorf, Wiesbaden