Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 18. Dezember 2014 — C-354/13 (FOA)

Leitsätze:

1. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es kein allgemeines Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas als solcher in Beschäftigung und Beruf enthält.

2. Die Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass die Adipositas eines Arbeitnehmers eine „Behinderung“ im Sinne dieser Richtlinie darstellt, wenn sie eine Einschränkung mit sich bringt, die u. a. auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen von Dauer zurückzuführen ist, die ihn in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können.

Aus den Gründen

(1–30) Das Vorabentscheidungsersuchen … ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gewerkschaft Fag og Arbejde (FOA), die für Herrn Kaltoft handelt, und der Kommunernes Landsforening (KL) (Nationaler Verband der dänischen Gemeinden), die für die Billund Kommune (Gemeinde Billund, Dänemark) handelt, über die Rechtmäßigkeit der Entlassung von Herrn Kaltoft, die auf dessen Adipositas beruhen soll. …

(31) Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es ein allgemeines Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas als solcher in Beschäftigung und Beruf enthält.

(32) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gehört zu den Grundrechten als integraler Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts u. a. das allgemeine Diskriminierungsverbot, das für die Mitgliedstaaten somit verbindlich ist, wenn die im Ausgangsverfahren in Rede stehende innerstaatliche Situation in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt (vgl. in diesem Sinne Urteil Chacón Navas, C-13/05, EU:C:2006:456, Rn. 56).

(33) Hierzu ist festzustellen, dass weder der EU-Vertrag noch der AEU-Vertrag eine Bestimmung enthält, die eine Diskriminierung wegen Adipositas als solcher verbietet. Insbesondere wird weder in Art. 10 AEUV noch in Art. 19 AEUV auf Adipositas Bezug genommen.

(34) Im Einzelnen ergibt sich zu Art. 19 AEUV aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass dieser Artikel lediglich eine Regelung der Zuständigkeiten der Union enthält und, da er nicht die Diskriminierung wegen Adipositas als solcher betrifft, keine Rechtsgrundlage für Maßnahmen des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung einer solchen Diskriminierung sein kann (vgl. entsprechend Urteil Chacón Navas, EU:C:2006:456, Rn. 55).

(35) Ebenso wenig enthält das abgeleitete Unionsrecht ein Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas in Beschäftigung und Beruf. Insbesondere ist Adipositas nicht in der Richtlinie 2000/78 als Diskriminierungsgrund aufgeführt.

(36) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs darf der Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 nicht in entsprechender Anwendung über die Diskriminierungen wegen der in Art. 1 dieser Richtlinie abschließend aufgezählten Gründe hinaus ausgedehnt werden (vgl. Urteile Chacón Navas, EU:C:2006:456, Rn. 56, und Coleman, C-303/06, EU:C:2008:415, Rn. 46).

(37) Daher kann Adipositas als solche nicht als ein weiterer Grund neben denen angesehen werden, derentwegen Personen zu diskriminieren nach der Richtlinie 2000/78 verboten ist (vgl. entsprechend Urteil Chacón Navas, EU:C:2006:456, Rn. 57).

(38) Im vorliegenden Fall enthält die dem Gerichtshof übermittelte Akte nichts, was darauf schließen ließe, dass der im Ausgangsverfahren fragliche Sachverhalt, soweit er eine Entlassung betrifft, die auf Adipositas als solcher beruhen soll, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.

(39) In diesem Zusammenhang finden auch die Bestimmungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union keine Anwendung auf einen solchen Sachverhalt (vgl. in diesem Sinne Urteil Åkerberg Fransson, C-617/10, EU:C:2013:105, Rn. 21 und 22).

(40) In Anbetracht dieser Erwägungen ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es kein allgemeines Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas als solcher in Beschäftigung und Beruf enthält.

(41) In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage sind die zweite und die dritte Frage nicht zu beantworten.

(42) Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass die Adipositas eines Arbeitnehmers eine „Behinderung“ im Sinne dieser Richtlinie darstellen kann und, falls ja, welche Kriterien ausschlaggebend dafür sind, dass dem Betreffenden der durch die Richtlinie gewährte Schutz gegen Diskriminierung wegen einer Behinderung zugute kommt.

(43–49) … Daher ist die vierte Frage als zulässig anzusehen.

(50) Vorab ist festzustellen, dass die Richtlinie 2000/78 nach ihrem Art. 1 die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung von Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf aus einem der in diesem Artikel genannten Gründe bezweckt, zu denen die Behinderung zählt (vgl. Urteil Chacón Navas, Rn. 41).

(51) Nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Art. 1 dieser Richtlinie genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt als eine andere Person.

(52) Gemäß ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. c gilt die Richtlinie 2000/78 im Rahmen der auf die Union übertragenen Zuständigkeiten für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, u. a. in Bezug auf die Entlassungsbedingungen.

(53) Nach der Ratifizierung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das mit dem Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009 (ABl. 2010, L 23, S. 35) im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt wurde, hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Begriff „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 so zu verstehen ist, dass er eine Einschränkung erfasst, die u. a. auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen von Dauer zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können (vgl. Urteile HK Danmark, EU:C:2013:222, Rn. 37 bis 39; Z., C-363/12, EU:C:2014:159, Rn. 76, und Glatzel, C-356/12, EU:C:2014:350, Rn. 45).

(54) Dieser Begriff „Behinderung“ ist so zu verstehen, dass er nicht nur die Unmöglichkeit erfasst, eine berufliche Tätigkeit auszuüben, sondern auch eine Beeinträchtigung der Ausübung einer solchen Tätigkeit. Eine andere Auslegung wäre mit dem Ziel dieser Richtlinie unvereinbar, die insbesondere Menschen mit Behinderung Zugang zur Beschäftigung oder die Ausübung eines Berufs ermöglichen soll (vgl. Urteil Z., EU:C:2014:159, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

(55) Für den Anwendungsbereich dieser Richtlinie je nach Ursache der Behinderung zu differenzieren, würde außerdem ihrem Ziel selbst, die Gleichbehandlung zu verwirklichen, widersprechen (vgl. Urteil HK Danmark, EU:C:2013:222, Rn. 40).

(56) Der Begriff „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 hängt nämlich nicht davon ab, inwieweit der Betreffende gegebenenfalls zum Auftreten seiner Behinderung beigetragen hat.

(57) Darüber hinaus geht die Definition des Begriffs „Behinderung“ im Sinne von Art. 1 der Richtlinie 2000/78 der Bestimmung und Beurteilung der in Art. 5 der Richtlinie ins Auge gefassten geeigneten Vorkehrungsmaßnahmen voraus. Gemäß dem 16. Erwägungsgrund dieser Richtlinie soll mit solchen Maßnahmen nämlich den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung Rechnung getragen werden, und sie sind daher Folge und nicht Tatbestandsmerkmal der Behinderung (vgl. in diesem Sinne Urteil HK Danmark, EU:C:2013:222, Rn. 45 und 46). Daher kann nicht allein deshalb, weil Herrn Kaltoft gegenüber keine solchen Vorkehrungsmaßnahmen getroffen wurden, davon ausgegangen werden, dass er nicht behindert im Sinne der Richtlinie sein kann.

(58) Es ist festzustellen, dass Adipositas als solche keine „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 ist, da sie ihrem Wesen nach nicht zwangsläufig eine Einschränkung wie die in Rn. 53 des vorliegenden Urteils beschriebene zur Folge hat.

(59) Dagegen fällt die Adipositas eines Arbeitnehmers, wenn sie unter bestimmten Umständen eine Einschränkung mit sich bringt, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die ihn in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können, und wenn diese Einschränkung von langer Dauer ist, unter den Begriff „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 (vgl. in diesem Sinne Urteil HK Danmark, EU:C:2013:222, Rn. 41).

(60) Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn der Arbeitnehmer aufgrund seiner Adipositas an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, gehindert wäre, und zwar aufgrund eingeschränkter Mobilität oder dem Auftreten von Krankheitsbildern, die ihn an der Verrichtung seiner Arbeit hindern oder zu einer Beeinträchtigung der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit führen.

(61–63) … Für den Fall, dass das vorlegende Gericht zu dem Schluss gelangt, dass die Adipositas von Herrn Kaltoft die in Rn. 53 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen erfüllt, ist bezüglich der Beweislast darauf hinzuweisen, dass nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 die Mitgliedstaaten im Einklang mit ihrem nationalen Gerichtswesen die erforderlichen Maßnahmen ergreifen müssen, um zu gewährleisten, dass immer dann, wenn Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für verletzt halten und bei einem Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, es dem Beklagten obliegt zu beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat. Nach Art. 10 Abs. 2 lässt Abs. 1 das Recht der Mitgliedstaaten, eine für den Kläger günstigere Beweislastregelung vorzusehen, unberührt.

(64) Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass die Adipositas eines Arbeitnehmers eine „Behinderung“ im Sinne dieser Richtlinie darstellt, wenn sie eine Einschränkung mit sich bringt, die u. a. auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen von Dauer zurückzuführen ist, die ihn in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob dies Voraussetzungen im Ausgangsverfahren erfüllt sind. …

Redaktionell überarbeitete Fassung eingereicht von P. Becker, Kassel