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Die Invalidität in der privaten Unfallversicherung

Rolf Lehmann, Elmar Ludolph.

2018, 5. Auflage, 190 Seiten,

VVW GmbH,

Preis 49,00 EUR,

ISBN 978-3-96329-008-4

Im Jahr 2001 veröffentlichten der ehemalige Leiter der Abteilung Unfallschaden der Allianz Versicherung in München und der Unfallchirurg Elmar Ludolph erstmalig einen Leitfaden zur Invalidität in der privaten Unfallversicherung. Die Publikation ist seit dem ersten Erscheinen zu einem wichtigen Hilfsmittel bei der Bemessung der Invalidität in der privaten Unfallversicherung geworden. Der Band wendet sich an medizinische Sachverständige, Juristen und Mitarbeiter in privaten Unfallversicherungen.

Anfänglich handelte es sich um einen eher kurzen einführenden Leitfaden, inzwischen liegt ein Handbuch vor, indem die rechtlichen Grundlagen aus Sicht der Autoren ausführlich dargestellt werden. Der Leser erhält detaillierte Hinweise für die Bemessung der Invalidität. Berücksichtigt werden sowohl unfallchirurgische, neurologische, urologische und internistische Verletzungsfolgen. Auch enthält der Band Empfehlungen zur Einschätzung von Verletzungen der Sinnesorgane. Sachbearbeitern in Versicherung werden für einzelne Verletzungen konkrete Hinweise zu den vorzunehmenden finanziellen Rückstellungen (zu erwartenden Invaliditätsleistungen) gegeben.

Das nun sehr mit einem Umfang von 180 Seiten ausführliche und systematisch gegliederte Werk sollte in keiner Handbibliothek eines medizinischen Sachverständigen, eines spezifisch tätigen Juristen oder Sachbearbeiters fehlen. Allerdings wird nicht jeder praktisch tätige Arzt, der nur gelegentlich Gutachten für die private Unfallversicherung erstattet, der Systematik und den juristischen Ausführungen zu folgen vermögen.

Die Kommentare der Autoren sind zum Teil sehr pointiert. Sie setzen sich kritisch mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung auseinander. Hierin spiegelt sich die individuelle Sichtweise beider Autoren. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn die geltende höchstrichterliche Beurteilung von den persönlichen Meinungen der Verfasser inhaltlich und optisch abgegrenzt worden wäre. Leider machen die Autoren nicht deutlich, wo die Grenze zwischen anzuwendender Rechtsprechung des BGH und anderer Obergerichte und ihrer eigenen Meinung verläuft (z. B. auf den Seiten 30–31). Durch die Vermischung von Urteilen und persönlicher Meinung kann der Eindruck entstehen, bei den Äußerungen von Lehmann und Ludolph handele es ich um feststehende und maßgebliche Auslegungen aus rechtlicher und medizinischer Sicht. Dies ist gerade nicht der Fall.

Hilfreich sind die vielfältigen Bemessungsempfehlungen, die jedoch in jedem Einzelfall einer kritischen Überprüfung bedürfen. Eine schematische Anwendung durch Ungeübte (zum Beispiel Addition) führt zu falsch hohen oder zu niedrigen Invaliditätswerten (bei Außerachtlassung weiterer struktureller Unfallfolgen). Deshalb sollten die „traditionellen“ Invaliditätstabellen in Zweifelsfällen zur Kontrolle beigezogen werden. Dies gilt nicht für veraltete Vorgaben zur Bemessung der Endoprothesen, bei denen heute deutliche bessere Langzeitergebnisse als in der Vergangenheit zu erwarten sind. Ob bei sehr guter Funktion einer Endoprothese der Hüfte oder des Kniegelenkes bei über 66 Jahre alten Versicherten tatsächlich nur eine Invalidität von 1/20 Beinwert begründet ist sollte jeder medizinische Sachverständige für sich selbst entscheiden. Der Unterzeichner hält eine derartige Bemessung für untersetzt. Das gleiche gilt auch für eine Ausschaltung von zwei Bewegungsegmenten (Spondylodese mit Einbeziehung von drei Wirbelkörpern durch einen dauerhaft eingebrachten Fixateur intern) die mit 10 % außerhalb der Gliedertaxe zu niedrig bewertet ist.

Auch die Vorgaben nach der modularen Einschätzung nach Schröter und Ludolph bedürfen in jedem Fall einer sorgfältigen individuellen Beurteilung. Der Hinweis, dass es sich um die „herrschende Meinung“ handele, die zwingend anzuwenden sei, ist zumindest diskussionswürdig, da es keine verbindlichen Vorgaben der drei orthopädisch-chirurgischen Fachgesellschaften gibt. Weder sind die Gremien durch die Zusammensetzung demokratisch legitimiert, noch fanden jemals qualifizierte Abstimmungsprozesse statt, die eine derartige Annahme rechtfertigen. An dieser Stelle soll nur ein Beispiel für die dysfunktionalen Ergebnisse einer chirurgischen Kommissionsentscheidung erwähnt werden: Die „Kommission Gutachten der DGU“ hatte die Empfehlung ausgesprochen, wesentliche MdE-Werte in der gesetzlichen Unfallversicherung stark herabzustufen. So sei die MdE einer Oberschenkelamputation von 70 % auf 40 %, einer Unterschenkelamputation von 50 % auf 30 % zu reduzieren. Damit stellte eine medizinische Fachkommission die gesamte Entschädigungspraxis der gesetzlichen Unfallversicherung in Frage. Der Versuch. diese Empfehlung auch in der orthopädischen Fachgesellschaft durchzusetzen, scheiterte an der zufälligen Anwesenheit einiger Teilnehmer. Die Entscheidung der Kommission Gutachten der DGU führte zu einer heftigen Verunsicherung und Widerständen innerhalb der Sozialpartner und konnte erst mit hohem Aufwand durch die Spitzen der DGUV revidiert werden.

Die Autoren sind sich der Diskrepanz der zum Teil recht knappen Bewertungen und Bemessungsempfehlungen und den tatsächlich von den Versicherungen gezahlten Entschädigungen durchaus bewusst. Die Empfehlungen für Rückstellungen, die Versicherungen für jeden Versicherungsfall vornehmen sollten, liegen deutlich über den Bemessungsempfehlungen. Sollte der einzelne Gutachter Zweifel an einer evtl. zu niedrigen Einschätzung haben, so mag er in die Rückstellungstabelle schauen: Vielleicht führt ein Mittelweg zwischen den teils knappen Bemessungsempfehlungen und den im Einzelfall zu hohen Rückstellungen zu einer korrekten und gerichtsfesten Invaliditätsfeststellung.

Klaus-Dieter Thomann, Frankfurt am Main